Hinter allen Ausdifferenzierungen in der Vielheit, hinter allen Gegensätzen steht letztlich die Einheit. Sie ist weniger ein Naturgesetz als ein Seinszustand, welcher Wurzel und Quelle von allem ist, was später entstand.
Das ursprüngliche menschliche Sein entstammt dieser Einheit, und doch sind wir augenscheinlich weiter von ihr entfernt als je zuvor. Was geschieht, wenn ein nennenswerter Teil der Menschheit zu ihr zurückkehrt?
Die Menschheit steckt im Augenblick in einigen Konflikten, von denen man dachte, dass sie bereits der Vergangenheit angehören.
In Europa wird ein Krieg geführt, von dem niemand weiß, wie er zu einem schnellen und friedlichen Ende kommen könnte.
Zwischen Israel und der Hamas weiten sich (Stand Ende Oktober 2023) die kriegerischen Handlungen aus, und die Wünsche der Kriegsparteien nach einer endgültigen Lösung (man bemerke die beinah schmerzfrei formulierte Abstraktion) und die Bemühungen großer Teile der Weltgemeinschaft, den Konflikt einzudämmen, liefern sich ein Tauziehen. Dabei fällt dennoch auf, dass immer weniger Menschen eine Konfliktpartei als Ganzes dämonisieren, sondern im Gegenteil zu differenzieren wissen und die Komplexität der Lage anerkennen. Es sieht auch so aus, als könnten immer mehr Menschen auf beiden Seiten die Angst und den Schmerz der jeweils anderen wahrnehmen und gelten lassen.
Vielleicht wird die Erkenntnis, dass der generationenlang angereicherte Schmerz sich nur weiter auftürmen wird, wenn alle weitermachen wie bisher, mittelfristig Lösungen ermöglichen. Ich denke aber, dass etwas anderes ebenso zum Tragen kommt: Die Fähigkeit der Menschen, sich in ihrem Gegenüber zu erkennen, und in der Folge die Fähigkeit der Menschheit, sich als wirkliche Einheit wahrzunehmen, über alle Grenzen hinweg.
Dabei befindet sich die Menschheit nach wie vor in einem Bündel von Krisen, das aus der Normalität des westlichen Lebensstils erwachsen ist: Wachsender Flächen- und Ressourcenverbrauch, die Vermüllung des Planeten und die damit einhergehende umfassende Naturzerstörung, die via Artensterben und Klimawandel unsere Lebensgrundlagen aufzehren werden, wenn wir nicht umlenken und begreifen, dass wir uns begrenzen müssen. Es ist schwer, vom Mehr zum Weniger überzugehen und dessen Freiheiten wertzuschätzen; es ist schwer, Gewohnheiten abzulegen und im eigenen Inneren zwischen der empfundenen – und realisierbaren – geistig-seelischen Weite und dem begrenzten Stoff zu differenzieren, den wir uns alle teilen müssen.
Anfang Januar 2023 besuchte ich eine Tagung mit dem Thema Weltinnenpolitik. Dort ging es um die Ausleuchtung des oben skizzierten Problembündels, nicht ohne Initiativen vorzustellen, die die globale Verständigung auf gemeinsame Werte verfolgten oder sich konkreten Aktionen widmeten, um Energieverbräuche von Schulen zu minimieren oder das eigene Umfeld zu begrünen. Bei Tisch fanden die Komplexität und der Ernst der Lage Ausdruck in anregenden Diskussionen. Als ich neugierig fragte, inwieweit die bekannten Umweltproblematiken zu Änderungen in der täglichen Lebenspraxis geführt hätten, verneinten das alle meine Gesprächspartner. Wissen ist noch nicht handeln. Was tun mit dem Reformstau?
Der Weltinnenraum [1]
Viele Menschen sind im Lauf ihrer spirituellen Entwicklung mit seelischen Feldern in Kontakt gekommen, die Brücken zur Einheit sein können. Viele suchen nach der besonderen Art dieser Verbindung, nach einem Raum der Begegnung, in dem sie das Korsett ihrer begrenzten Meinungen und Möglichkeiten in einem größeren Ganzen ablegen können.
Überall, wo Menschen einen spirituellen Weg gehen, entstehen einigende seelische Felder. Der Planetgeist selbst besitzt ein Atemfeld, das Menschen erfahren können. Nichts anderes teilte sich meinem Empfinden nach Rainer Maria Rilke mit, als er 1914 sein Gedicht Es winkt zu Fühlung schrieb. Dort zeigt er den Weg allen Lebens in eine wahrnehmende, liebende Einheit:
(…) Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als dass sich eins im anderen erkennt?Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. (…)
Rilke nährte sich in seiner Dichtung über lange Zeit diesem Weltinnenraum an, bis er ihn schließlich klar sehen und formulieren konnte. Heute wird er für viele spürbar, zuerst wohl in der Begegnung mit Gleichgesinnten.
Immer mehr Menschen empfinden daneben gleich einem Erwachen aus der vermeintlichen Naturbeherrschung, dass sie an diesem Weltinnenraum teilhaben und erfahren auf diese Weise seine Schönheit, aber auch die damit verbundene Verantwortung für das Ganze. Mensch und Natur, Mensch und Mitmensch nähern sich einander neu an. Als Folge zeigen sich wachsendes Mitgefühl mit allem Lebendigen und ein Abnehmen von Konkurrenz, Feindschaft und blindem Eigeninteresse, wenn das substanzielle Einssein im Seelengrund erahnbar wird. Dennoch bleiben Zielkonflikte, solange wir unser tägliches Leben auf der Basis unserer hergebrachten Individualität weiterführen.
Eine Lebenshaltung
Die Teilhabe an einigenden seelischen Feldern oder die Wahrnehmung des Weltinnenraums kann ein neues Bewusstsein zur Geburt bringen, in dem tieferes Verständnis und Verbundenheit zusammenfließen. Haupt und Herz erheben sich somit aus der Vereinzelung und erproben ein neues, umfassenderes Leben. Dennoch bleibt der Einfluss alter Gewohnheiten und des Nach-außen-gerichtetseins (das wir immer noch mit dem größten Teil der Menschheit gemeinsam haben); es bleiben auch Ängste, die leicht zu triggern sind, solange wir nicht in der Tiefe des göttlichen Ungrundes das eine Lebensfundament finden.
Dennoch: Großen wie kleinen Konflikten kann man Nahrung entziehen in dem Bewusstsein, dass es im tiefsten Wesen keine Feindschaft, ja nicht einmal Fremdheit geben kann. Sich dem medialen Rummel zu entziehen, der stündlich neue Skandale, Krisen und Katastrophen verkünden muss, um Aufmerksamkeit zu generieren, ist eine gesunde Haltung. Das Streben nach Einheit erfüllt sich nicht, wenn wir uns von den Medien in jeden Konflikt stürzen lassen, nur um wieder gedrängt zu werden, eine Seite zu wählen. Vielleicht ist es möglich, in einzelnen Augenblicken die Macht globaler astraler Erschütterungen wahrzunehmen und sich zu fragen, ob dies nicht einer wirklichen Gefangennahme gleicht.
Wo stehe ich? Was kann und sollte ich in meinem Umfeld tun? Diese Fragen kann man sich stellen. Viele tun es und brechen aus alten Strukturen aus. Lang gepflegte Paradigmen können fallen, zum Beispiel das Streben nach Wohlstand, das als Ausweis dessen gilt, dass man etwas sehr Wesentliches richtig gemacht hat. Oder die geradezu dogmatisch verfolgte Gewinnmaximierung in Unternehmen, in der Macht- und Besitzstreben mit der Angst zusammenfallen, was ich nicht tue, wird mein Konkurrent morgen tun… Neue Initiativen und Strukturen entstehen – eine global vernetzte Weltgemeinschaft kann ohne Strukturen nicht existieren – aber auf einer anderen Basis. Ein Beispiel sind Gemeinwohlökonomie oder Lokalwährungen.
Wenn genügend Menschen sich durch einen Prozess seelischen Erwachens aus der Gefangenschaft blind verfolgter Interessen befreien, können auch die übergeordneten Strukturen – Regierungen, Großkonzerne – anders handeln. Wozu Menschen sich zusammenfinden oder zusammenfügen, das spiegelt immer den gemeinsamen Nenner aller wider. Bisher können beispielsweise Staaten nicht anders, als die materiellen Interessen ihrer Bürger zu interpretieren und dementsprechend zu vertreten: und der kleinste gemeinsame Nenner scheint in Macht- und Besitzstreben zu liegen. Ob es darum geht, Rohstoffressourcen zu sichern oder die nationale Sicherheit in entfernten Kriegen zu verteidigen: Konzerne und Staaten werden das weiter tun: Nur eine wirkliche Umwendung vieler kann das ändern.
Das Universelle als integrierender Sinn
Wer seine Individualität dem Universellen öffnet, wird die geistig-seelische Einheit als Seinszustand in die Welt tragen. Nur wer das Ich grundsätzlich diesem Universellen gegenüber öffnen und, ja, preisgeben kann, der hilft, die Blockaden von Gewohnheiten, Besitzstandswahrung und existenziellen Ängsten durch die eigene Wandlung beispielhaft für andere zu überwinden. Menschen, die das Eine(nde) sind und nicht nur fühlen, können sehr viel bewirken.
Diese Wandlung wird kein Paradies auf Erden schaffen. Doch unser Planet wird als Seelenschule erhalten bleiben, in der Menschen lernen und wachsen können. Wir Menschen werden weiter zerbrechlich und sterblich sein und in unserer Unwissenheit auch die Fähigkeit zum Bösen haben. Diesen Herausforderungen kann man sich dann stellen, ohne durch das Hamsterrad, wie wir es jetzt kennen, zu sehr von der Suche nach wahrer Menschwerdung abgelenkt zu werden.
Im indischen Mahabharata gibt es die Philosophie von den Yugas, den Zeitaltern, die immer wieder gesetzmäßig aufeinander folgen. Danach befinden wir uns im Kali Yuga, dem vierten und dunkelsten Zeitalter, in dem die Moral abnimmt, bis sie gegen Null geht. Diesem folgt ein Goldenes Zeitalter, ein Satya Yuga, das auch als Zeitalter der Vollkommenheit verstanden wird. 2012 und 2025 werden von unterschiedlichen Quellen für diese Wende zu einem neuen Zeitalter genannt, und wir befinden uns also, wenn wir dieser Sicht folgen, in seiner Morgendämmerung. Wie vielleicht offensichtlich ist, bedeutet dieser Übergang keinen direkten Weg ins Licht – noch geht die Menschheit durch ein dunkles Zeitalter, in dem ihr zunächst immer bewusster wird, dass sie erntet, was sie gesät hat.
Es sind Menschen, die sich gleichsam in den Abgrund des Nichtseins stürzen, um als universelle Entitäten daraus hervorzugehen, die für alle einen sanfteren Übergang bewirken können. In ihnen wird etwas Allumfassendes erfahrbar, durch das wesentliche Fehlen jeder Art von Selbstbezogenheit, weshalb sie die Weite des wahren Menschseins erkennbar machen. Sie sind nicht nur Inspiration, sondern konkrete Hilfe – sie lüften den Deckel der Ängste, Begierden und Begrenzungen, unter dem viele andere leben. Sie strahlen unüberwindliche Kraft aus, die alle Verkrustungen wegfegt. Diese Gruppe macht den Unterschied, weil sie das universelle, befreite Menschsein für sehr viele erkennbar macht: als tragenden und alles erfüllenden Sinn. Er hebelt alle irdischen Ziele aus, die immer zu kurz greifen, er wirft strahlendes Licht in unsere Dunkelheit.
Nur aus dem göttlichen Urquell entsteht eine alles umfassende Einheit, aus der Menschen für das große Ganze arbeiten können, ohne an inneren Vorbehalten zu scheitern. Ob die Menschheit durch ihre Schwerfälligkeit weiter auf eine Verengung ihres Lebensfeldes zusteuert oder in sich selbst und in der Welt aufräumen kann, hängt von den Menschen ab, die den Sinn erkennbar machen, der alles Andere, Alte überstrahlt. Dies macht den Unterschied zwischen einer Zivilisation, die untergeht und einer Zivilisation, die es schafft, sich zu wandeln.
Verwandlung
Wir brauchen nicht nach außen zu schauen, um uns zu fragen, wer diese Lichtgestalten sind und uns nicht einmal zu wünschen, einer von ihnen zu begegnen. Wer den Weltinnenraum als Anfang eines neuen Seins erlebt, kann sich entschließen, den Faden dieses Beginns weiterzuverfolgen, anstatt ihn ausschließlich als Rückzugsraum oder Ort gelegentlicher Erhebung zu gebrauchen.
Dann können sich tiefere, weiterführende Felder öffnen, die wirkliche Transformation ermöglichen – Transformation der Seele, die der Beginn der Umgestaltung bis in den Stoff hinein ist. Wenn wir die Einheit allen Seins ernst nehmen und sie als Urquell und als Same unseres Wesens erkennen, dann öffnen uns Liebe und Beharrlichkeit den Weg zur Verwandlung und dadurch in das ursprüngliche menschliche Lebensfeld. Wir gehen dann den Weg in die Einheit und halten ihn dadurch für alle anderen offen.
Die ganze Welt kann zu einer Schule des Geistes werden, in der die Einheit des universellen Menschseins ohne Worte gelehrt wird, und das „Wer Schmerz sät, wird Schmerz ernten“ hat dann als Hauptfach ausgedient. Ob das so passiert, hängt von uns allen ab.
[1] Dieser Ausdruck bezieht sich auf Rainer Maria Rilkes Gedicht „Es winkt zu Fühlung“.