Fremdsein als Wegweiser

Fremdsein als Wegweiser

Wir Menschen sind grundsätzlich Fremde, denn wir kennen uns selbst nicht. Sind wir auch in der Fremde? Ein Versuch, einander überlagernde Fremdheiten zu sichten

 

Wer heute in einem hochentwickelten Land lebt, lebt ziemlich sicher ein entfremdetes Leben, denn unser Bewusstsein hat sich von vielen natürlichen Lebenszusammenhängen gelöst, ohne dass wir dadurch von ihnen unabhängig geworden wären. Zu den vielen Aspekten der Entfremdung zählen höchst arbeitsteilige Jobs, Leben in fast völlig menschengemachten Umgebungen und außerdem nicht zuletzt die fortschreitende Digitalisierung des Alltags. Wir sehen meist nur Teile eines Ganzen, und wir erfahren eine immense Beschleunigung als Folge des Fortschritts – nicht nur in der Fortbewegung oder in Herstellungsprozessen, sondern auch durch eine unaufhörliche Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, die uns vieler früherer Sicherheiten beraubt. Und Sicherheit könnte uns zumindest eine Art von Heimatgefühl geben.

Was ist unser Ort im Leben? Wie oft haben wir noch mit natürlich Gewachsenem, Lebendigem zu tun, das nicht aus unserem Denken entsprungen oder von Fließbändern ausgespuckt worden ist? Ohne Zweifel bringt unsere Selbstverwirklichung als Gestalter unseres Lebensraumes eine Menge Entfremdung mit sich. Unser Planet als Ganzheit mit uns als seinen Bewohnern, ja Kindern, ist meist eine Randerscheinung in unserem Bewusstsein. Unsere Tage sind vielfach damit erfüllt, all das Menschengemachte, Kleinteilige und Technoide zu weiterer Entwicklung zu führen und dessen „Wohltaten“ zu genießen, als würde unser Menschsein genau darauf zielen.

Man kann diese Entwicklungen kritisch begleiten und mit Recht alle seelischen Notstände benennen, die damit einhergehen [1]. Was aber, wenn diese Entwicklung gleichzeitig ein Irrweg und ein Weg zum Erwachen ist, der auf lange Sicht vom Natur- zum Geistmenschen führt?

Ich erlebe mich selbst und die Welt als eine Abfolge ambivalenter Erfahrungen.

Wer bin ich? Nichts, was ich in der Welt sein und tun kann, wird diese Frage grundsätzlich beantworten; diese Frage rührt an ein Dunkel, das von einem Individuum modernen Zuschnitts nicht ermessen oder gar ausgeleuchtet werden kann. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich meine Fähigkeiten entwickeln kann, darf und soll, und dass mein Sein und Werden einen Berührungspunkt, ja ein Gefäß für Sinn, für Antworten bilden können. Ich erlebe: Nur in dieser Offenheit meiner unbekannten Mitte gegenüber bin ich bei mir.

Gleichzeitig versuche ich trotz allem, für mich eine stoffliche Heimat zu schaffen. Beziehungen, Orte, Routinen – sie alle weisen fundamentale Leerräume auf. Kein Wohnort hat in mir je die Erkenntnis ausgelöst: Hier gehöre ich hin. Keiner war Kraftquell und Identifikationsobjekt. Mit Menschen ging es tiefer, nie auf Dauer, doch: ich traf Seelengefährten. Nichts und niemand hält mich, es sei denn, ich selbst kann etwas Anderem Heimat bieten.

Ambivalente Abstraktion

Ich will verstehen. Gleicht der Drang, die Welt als Beziehungsgeflecht, Struktur und Mechanismus, also abstrakt, zu verstehen, nicht der Art und Weise, wie man Maschinen und letztlich den Computer erfunden hat? Zielt aber der Mensch, indem er sein abstraktes Denken entwickelt, nicht genau dann auf das Reich der Ideen, von dem Plato als von einer höheren Wirklichkeit spricht?[2]

Ich erlebe im abstrakten Denken eine Ambivalenz. Der Versuch, Strukturen zu erkennen, führt oft in einen luftleeren und leblosen Raum. Andererseits lassen sich Gesetzmäßigkeiten – in Medizin, Chemie, Physik etc. – finden, die uns zu verstehen helfen, wie wir selbst und die Welt funktionieren. Das Abstrakte ist eine Zone, in der das logische Denken mühevoll existiert – bis das Abstrakte als Realität erfahren wird und Schöpfungsprinzipien sich zeigen können, als Idee und höhere, urtümliche Kraft. Doch wenn wir nur Funktion suchen und nicht Wesen, entsteht neben der Technik, die unser Leben erleichtert, auch Entfremdung. Wir beherrschen so vieles, doch diese Art der Herrschaft wird von Einsamkeit und einer nie endenwollenden Menge Fragen begleitet.

Und doch: Vieles, was die Wissenschaft ermöglicht hat, scheint ein fragmentiertes Abbild des gesuchten heimatlichen, vielleicht göttlichen Seinszustandes zu sein. Zunehmende Geschwindigkeit, Echtzeit-Kommunikation, die Mühelosigkeit vieler Verrichtungen…  Dabei ist der Planet zum Dorf geworden, die Zeit hat den Raum verschlungen und verschwindet nun selbst in irgendeiner Falte der Dimensionen. Unsere Realität kommt uns abhanden: Fremdheit.

Fragen

Mich selbst konfrontiert das Wissen um die „Mechanik“ in allen Dingen mit meiner Existenz als Element in der großen Weltmaschine. Kann es sein, dass ich Mittel bin und nicht Ziel? Ist in dem so bewundernswerten menschlichen Körper irgendwo ein Sinn verborgen, irgendetwas, was Zweck ist und nicht Werkzeug? Die Frage nach der Seele taucht auf, als Prüfstein, aber auch als Rettung. Ich fühle, Seele muss etwas sein, was im Körper erwacht und wächst, um ihn schließlich tragen und vielleicht verwandeln zu können.

Die Welt begegnet mir als eine ebenso umfassende Frage. Ich bin in ihr, lebe in ihrem Geheimnis und bin dankbar dafür. In der Natur erlebe ich jedoch Schönheit und Chaos, Blüte und Verfall. Sie ist die Gebärerin und die Verschlingerin. Und: sie ist selbst vergänglich, wenn auch nicht nach meinem menschlichen Maßstab. Ist sie nur ein großes Nullsummenspiel, eine geo-bio-chemische Maschine? So scheint es mir oft, und dann fühle ich mich fremd in ihr. Sogar das luftige Blätterdach des Waldes, unter dem ich spaziere, wird mir manchmal unvermutet zum grünen Grab. Das nimmt mir den Atem und zeigt mir meinen Platz als sterbliches Wesen. Doch es gibt auch andere Momente: solche, in denen die Natur zum transparenten Gefäß des alldurchdringenden Lebens wird, das auch in mir ist. Dazu habe ich selbst nicht immer Zugang; ich muss einen Weg gehen, von der Natur getragen, gespiegelt, begleitet.

Die verlorene Einheit

Etwas, was ich als Jugendliche ebenso staunend wie verunsichert erlebte, weist auf den letzten Grund meines Fremdseins. Ich fragte mich: Warum sind die anderen andere? Warum sind sie mir nicht bekannt, warum begegne ich ihnen von außen? Was für die Menschen gilt, gilt auch für die Welt: Warum erlebe ich sie von außen, warum verbirgt sie ihr wahres Wesen von mir? In dieser Fremdheit bricht eine Erinnerung an die verlorengegangene Einheit auf. Sie verursacht genau deshalb ein Suchen nach Verstehen – nach Erkenntnis der Dinge aus dem Innersten.

Die Welt und ich können in meinem Erleben transparent für etwas Anderes werden. Das ist der Beginn einer neuen Erkenntnis und eines Weges.

Die Fremdheit vergeht und die Welt bietet mir Heimat, wenn ich selbst dem Einen in mir Heimat bieten kann. ES ist der Raum, in dem ich mich mich und alles andere wahrnehmen kann. Wenn das geschieht, dann wird alles zum Hinweis, zum Gefäß und lebendigen Symbol für ES. Und wann immer die Fremdheit mich wieder packt, weiß ich, sie erinnert mich daran, dass ich hier nur im Unterwegssein zuhause sein kann.


[1] As described bei Hartmut Rosa in: Beschleunigung und Entfremdung, Suhrkamp 2010

[2] Wie beschrieben in seinem berühmten Höhlengleichnis

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Datum: Juli 7, 2025
Autor: Angela Paap (Germany)
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