Torrente Rassina (ein Sturzbach in der Toskana). Ich bin 19, habe meine ersten zwei Semester hinter mir und bin zum zweiten Mal an diesem Ort: ein Bruch in der Reihe der Ereignisse, die mein bisheriges Leben zwischen ungeliebter Schule, enger Mietwohnung und besorgten Eltern bilden.
Unter mir ein großer, rund geleckter Fels, darum strömendes, springendes Wasser, dann Bäume mit flirrenden Blättern, dann Fels und Macchia mit duftendem Ginster und darüber ein Himmel, der so hell ist wie eine Verhörlampe und so weit und blau und klar wie die Liebe des Universums.
Der Steinbrocken hat schon einige Zeit Sonnenwärme aufgenommen, wertvoll hier unten in dem engen Tal, und er ist warm genug für Hände, Füße und Gesäß. Ich lümmle darauf, blicke auf das zwischen Steinen davontanzende Wasser und denke nicht daran, wer ich bin, wo ich bin, was ich bin. Die Sphäre um mich herum ist erfüllt von Gerüchen. Und ist erfüllt von Klängen: Zikaden scharren, der Fluss tobt in seinem Bett, weißes Rauschen, Bassimpulse an der Grenze zwischen fest, flüssig und gasförmig, ein Klacken wie von Kieseln, helles Zischen. Es ist der farbige, mächtige, tröstliche, nicht enden wollende Gesang des Flusses.
Da beginne auch ich zu singen. Unverbindlich, unverbunden strömen Melodien, wie herausgezogen vom Sog des stetigen Abwärts des Wassers. Wenn eine Idee aufgebraucht ist, beginne ich eine neue. Bekanntes, Gehörtes mischt sich ein und verklingt wieder. Allmählich formen sich Worte dazu, sinnlose Worte einer Sprache, die keiner kennt. Es klingt ein bisschen wie irische Volksweisen, wie Kinderlieder, und mehr und mehr, natürlich an diesem Ort, wie italienische Renaissance-Madrigale. Zumindest fühlt es sich so an und es ist wunderschön. Ich spiele mit den Klängen der für mich unbekannten Sprache dieses Landes und forme mein eigenes Idiom daraus. Ich probiere Stile und Stimmungen, einfach nur auf Grund dessen, was ich schon gehört und in mich aufgenommen habe. Ich singe hemmungslos. Niemand hört mich. Niemand beurteilt mich. Niemand vermisst mich.
In diesen Stunden bin ich ganz selbstvergessen, zutiefst glücklich.
Etwas in mir blickt mir über die Schulter dabei und es weiß, dass dieses Erlebnis wichtig ist, dass es mich verändert, dass ich es nie vergessen werde. Und zugleich ist diese Instanz weise genug, es nicht zu sehr bewusst werden zu lassen, es darf weiter fließen, bis seine Kraft aufgebraucht ist, oder besser: umgewandelt in Substanz, die sich in mein Wesen einfügt.
Nie vorher und kaum wieder danach habe ich mich so frei gefühlt.
Das Gefühl von Freiheit gedeiht, wenn der Zweck verschwindet. Was bedeutet das für echte, nicht nur empfundene Freiheit? Zeigt sie sich, wenn Absicht und Sinn zurücktreten? Wird sie zuteil dem, der sich selbst vergisst und dabei doch ganz in seiner Gegenwart steht? Können wir wahrnehmen, wie die Freiheit-in-uns sich verbindet mit der Freiheit des Universellen?
Freiheit ist ein Geschenk. Der Weg besteht darin, es wieder annehmen zu lernen.