Erwachen

Erwachen

Ein kleines Gedankenspiel ging mir durch den Kopf.

Im Ei schläft das Küken. In der Nacht schläft der Tag. Was schläft in meinem Herzen? Unter meinen Füßen schläft mein Lebensweg. In meinen Augen schläft die Freiheit. In meinen Händen schläft der freie Wille. In den Gärten schläft die Hoffnung. In den Blumen schläft die Liebe. In den Bergen schläft die Freiheit. Im Hirn schläft das Wort und in den Worten schläft das Hirn.

In den Städten herrscht der Hunger. Im Vergnügen herrscht der Mangel. In den Straßen die Ratlosigkeit. Hinter verschlossenen Türen die Einsamkeit. In den Krankenhäusern herrscht die Krankheit, in der Krankheit die Lüge, in der Lüge der Zweifel, im Zweifel die Angst. In der Angst schläft die Liebe, in der Liebe schläft die Gesundheit.

In den Schulen schlafen die Träume. In den Träumen herrscht die Sehnsucht, in der Sehnsucht die Liebe. Auf den Friedhöfen das Vergessen. In den Fabriken die Gewalt. In den Religionen die Täuschung. In der Politik die Angst.

Wenn jemand die Augen öffnet, kann er sehen, wie vieles schläft und wie vieles uns beherrscht. Und stufenweise kann er bis zur Liebe erwachen. Denn hinter allen Hüllen und hinter allen Höllen ist Liebe. Vielleicht hast du ein anderes Wort für das, was dahinter steht. Sogar wenn es Nichts wäre. Das Öffnen der Augen wäre ein Erwachen in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit würde frei werden. Wir aber schlafen weiter, wenn in unseren Herzen die Einsamkeit herrscht, oder die Angst, oder der Schmerz, oder die Trauer, und all die anderen Dinge, vor denen wir die Augen schließen. Die Straßen haben jedoch ein Ende. Dort begegnen sich zwei Menschen. Sie schauen sich an und in ihren Augen erwacht die Freude. Sie geben sich die Hände und in ihren Händen erwacht das Unfassbare. Sie sprechen das Wort und in ihren Herzen erwacht das Licht. Ihr Atem weckt die Schmetterlinge und die Blumen in den Gärten. Unter ihren Füßen entsteht ein Weg. Ihre Stimmen finden den Klang des Universums. Die Menschen in den Straßenbahnen horchen auf. Die Kobolde in den Maschinen verhalten sich humorvoll und gehorsam. An so einem Sonnentag finden die Menschen zueinander, in den Dörfern, auf den Marktplätzen, in den Werkstätten und in den Gärten. Nicht nur zwei, die sich die Hände reichen, sondern viele, wie im Kreis. Sie erwachen für einen Moment in der Wirklichkeit.

 

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Datum: April 29, 2024
Foto: bird-PublicDomainPictures auf Pixabay CCO

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