Zu sagen, dass Meditation heutzutage in Mode sei, wäre ein ziemlicher Euphemismus. Im Westen waren spirituelle Sucher die ersten, die – etwa im Rahmen des Zen-Buddhismus – die Meditation für sich entdeckten. Nach und nach wurden verschiedene Formen der Meditation populär. Der Erfolg dieser Praktiken knüpft sich unbestreitbar an die wahrnehmbaren Vorteile, die sie den Ausübenden bescheren.
Beispielsweise fördert die Stiftung des bekannten amerikanischen Regisseurs David Lynch seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt die Vorzüge der Transzendentalen Meditation (TM) für Menschen, die starkem Stress ausgesetzt sind. TM wurde durch den Inder Maharishi Mahesh Yogi in die Welt gebracht und zum Beispiel Kriegsveteranen, Menschen in Kerkerhaft, Opfern häuslicher Gewalt und Obdachlosen vermittelt. Auch hilft diese Methode Schülern und Studenten bei der Überwindung von Prüfungsangst und lindert ADHS und Hyperaktivität bei Kindern und Jugendlichen.
In Frankreich führt nicht ein orientalischer Guru die Bestsellerlisten zum Thema Meditation an, sondern der medienfreundliche Psychiater Christophe André. Seine Meditationsgruppen am Sainte-Anne-Hospital in Paris haben das Ziel, Patienten bei der Verarbeitung ihres Schmerzes und der Wiedererlangung ihrer Lebensfreude zu helfen.
Doch die Segnungen der Meditation gehen über persönliche Probleme und berufliche Anspannung hinaus; mittlerweile haben sie sogar die Politik erfasst. So bat der Gouverneur des vom Drogenschmuggel gezeichneten mexikanischen Bundesstaates Guerrero den indischen Meister Sri Ravi Shankar, seine Methode der Atemmeditation auszustrahlen. Diese Methode wird weltweit von etwa 350 Millionen Menschen angewandt und veranlasst den Körper zu erhöhter Ausschüttung von Serotonin, einem für das Wohlbefinden zuständigen Neurotransmitter. Einen Monat zuvor hatte es derselbe spirituelle Führer geschafft, den Unterhändlern der kolumbianischen Revolutionsarmee das Meditieren beizubringen (Le Monde, 08.12.2016).
Unter dem Begriff „Meditation“ werden zahlreiche Praktiken zusammengefasst, die die Notwendigkeit der Selbstreflektion, der Gegenwart des Selbstes, gemeinsam haben. Warum meditiere ich? Wer meditiert in mir? Was ist der Gegenstand, der Brenn- bzw. Mittelpunkt meiner Meditation? Womit verbinde ich mich, während ich meditiere? Welche inneren und äußeren Auswirkungen gibt es? Doch wir möchten hier nicht sämtliche Meditationspraktiken auflisten und anhand dieser fünf Fragen klassifizieren. Sondern jede/r Ausübende kann sich selbst beobachten und, falls gewünscht, diese Fragen für sich selbst beantworten.
Drei Dimensionen des Menschen
Wir schlagen eine Sichtweise der Meditation vor, die auf einem Weltbild fußt, das die oft als Geist, Seele und Körper angedeutete Dreiheit menschlichen Seins berücksichtigt. Diese Sichtweise findet sich unter anderem in den indischen, chinesischen, ägyptischen, semitischen, griechischen, römischen, keltischen und Sufi-Traditionen.
Auch das Christentum ist dieser anthropologischen Sicht eine Zeit lang gefolgt, wie der folgende Text von Ephraim dem Syrer, einem orientalischen Christen des 4. Jahrhunderts, zeigt:
Da die Seele kostbar ist, mehr noch als der Leib,
und kostbar der Geist ist, mehr noch als die Seele,
und das Göttliche, verborgener als der Geist,
wird sich der Leib mit der Schönheit der Seele bekleiden,
wenn das Ende naht.
Die Seele wird sich mit der Schönheit des Geistes umhüllen,
der Geist wird die göttliche Majestät auf seinem Antlitz tragen.
Der Körper wird in den Rang der Seele erhoben,
die Seele in den Rang des Geistes,
der Geist zu den Höhen der Majestät.
Dieses Bild des Menschen als dreifache Wesenheit wurde im 12. Jahrhundert von der römischen Kirche aus der westlichen Zivilisation getilgt. Es wurde nach und nach durch ein anderes, immer noch gültiges Konzept ersetzt: Dass der Mensch über einen physischen Körper und eine Seele verfügt, die jedoch nur noch als psychischer Apparat betrachtet wird. Die dritte, spirituelle Dimension, wurde sozusagen konfisziert und aus dem Gedächtnis der Menschheit ausgelöscht.
Das spirituelle Prinzip, das jedes Individuum im Innersten trägt wie ein Saatkorn der Transformation und Erneuerung, wird in manchen Traditionen als „Rose des Herzens“ bezeichnet. Es lebt im Schnittpunkt unserer „horizontalen“, irdischen Alltagsrealität und unserer „vertikalen“, auf das Geistige gerichteten Bestrebungen. Alle auf das Gute gerichteten geistigen Schulen, von Plato bis zu den Rosenkreuzern des 17. Jahrhunderts, weihen sich vollständig und ausschließlich dem Bemühen, diese vergessene Wirklichkeit wieder im Bewusstsein der Menschheit emporsteigen zu lassen. Der Anfang und das Ende ihrer Meditation ist die Wiederauferstehung des ursprünglichen Menschen nach Geist, lebender Seele und erneuertem Körper.
Die Struktur dieses dreifachen, zur Erneuerung bestimmten Menschen lässt sich mit einer dreistufigen Rakete vergleichen. Oben, an der Spitze, befindet sich der Geist. Die schwerste Struktur an der Basis stellt der Körper dar. Dazwischen befindet sich die Seele als Intermediär. Die drei Ebenen sind nicht voneinander getrennt, sondern kommunizieren miteinander, wobei das Bewusstsein des betreffenden Menschen den verbindenden Faktor darstellt. Es gibt also für jede dieser drei Dimensionen einen Bewusstseinszustand: Erstens den sinnesorganischen, zeiträumlichen, den wir alle bestens kennen. Zweitens das Seelenbewusstsein, und drittens dasjenige der Geistseele. Jede dieser drei Dimensionen korrespondiert mit einer bestimmten „Welt“, einem bestimmten Bewusstseinsfeld. Meditation auf der Basis dieses Menschenbilds bedeutet, sich jeden Tag vom irdischen „Gravitationsfeld“ loszureißen.
Spirituelle Meditation kommt nur aus dem Spirituellen
Der für diesen Aufstieg benötigte „Raketentreibstoff“ lässt sich nicht durch mentale Beruhigungsübungen oder Rückzug aus dem Getöse der Welt erzeugen. Die Energie, die die dichteste Struktur vorantreibt, ist im innersten spirituellen Prinzip verborgen, der „Rose des Herzens“. Vergleichen wir hier den Sinnspruch der Alchemisten: „Nur mit Gold läßt sich Gold herstellen“ mit dem Grundsatz der Rosenkreuzer: „Spirituelle Meditation kommt nur aus dem Spirituellen“. Dies ist das Mysterium des Alpha und Omega, des Anfangs und des Endes. In diesem Licht betrachtet, ist Meditation die tägliche Ausrichtung auf eine neue Quelle der Anziehungskraft, für jedermann im eigenen Wesen identifizierbar als die „Rose des Herzens“, dem Berührungspunkt des Absoluten mit unserem Herzen.
Aber diese Meditation ist nicht einfach, denn unser Wesen ist selten ruhig. Sobald wir aufwachen, werden wir überwältigt von unseren Gedanken, unseren Plänen für den Tag, Eindrücken aus der Nacht, Empfindungen und tausenden weiterer Gelegenheiten, unser wahres Selbst zu vergessen. Angesichts der zahllosen Ablenkungen müssen wir aktive Beobachter unserer inneren Abläufe sein: der Irritation, die in uns aufsteigt, der Worte, die wir sprechen, unserer Gefühle und unserer Handlungen. Hier beginnt unsere Meditation, und je mehr wir uns dieses Feldes bewusst werden, desto leichter kehrt es zu Ruhe, Harmonie und Serenität zurück.
Jede Dimension des Seins ist mit einer Lebenssphäre, einem spezifischen Lebensfeld verbunden. Wenn sich unser Bewusstsein aus tiefem Verlangen dem Geist in uns zuwendet, verbindet es sich mit dessen Energiefeld. Das ist, als würde man täglich mit der Seilbahn auf einen Berggipfel fahren. Um die Seilbahn zu erreichen, startet man im Tal und bewegt sich zum Haltepunkt. Die Basis dieser Meditation sind das Verlangen nach Erhebung und der Wille zur Handlung. Nach und nach entdecken wir, dass wir selbst gar nicht das Ziel dieses Erhebungsprozesses sind. Unser Ichbewusstsein stellt sich dann mit zunehmender Leichtigkeit in den Dienst des Absoluten, des Anderen in uns.
Der Aufstieg
Ist die Verbindung einmal hergestellt, so steigen wir in unserer „Gondel“ auf. Das bedeutet: Wir betreten das intermediäre Fahrzeug, die Seele, und bekleiden uns mit ihrem Bewusstseinszustand. Der Rest des Aufstiegs gehört uns nicht mehr. Doch am Ende dieser Meditation ernten wir die Wohltaten dieser inneren Reise: den Frieden, das Licht und die Kraft der Geist-Seelen-Welt. Mit diesem Schatz kehren wir zurück in das Tal der sinnesorganisch erlebbaren Alltagswelt, um unsere „horizontalen“ wie unsere „vertikalen“ Pflichten und Aufgaben zu erfüllen. Aus dieser Perspektive gesehen, ist Meditation keine separate Aktivität in unserem Wochenplan, sondern eine innere Verpflichtung für jeden Augenblick. Diese Meditation ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug: die effizienteste Methode zur Erneuerung unseres Bewusstseins.
Unser Ichbewusstsein beginnt die Meditation. Sobald die Verbindung mit unserem Brennpunkt hergestellt ist, verbindet sich das zeiträumliche Bewusstsein über die Rose des Herzens mit dem ewigen Seelenbewusstsein. Von diesem Moment an sind wir nicht mehr Herr oder Frau Sowieso, sondern nehmen die Welt mit dem Seelenbewusstsein wahr. Dieses Bewusstsein ist unter anderem gekennzeichnet durch Kritiklosigkeit und universelle Liebe. Auch ist es zu spiritueller Intuition fähig und nimmt die Einheit aller Dinge und Ereignisse wahr.
Als Vermittler zwischen dem Geistigen und seiner irdischen Manifestation (dem seelenbewussten Menschen) empfängt die ewige Seele Impulse vom Geist und überträgt diese in Bilder und Eindrücke, mit denen das Ichbewusstsein sich verbinden kann. Im Zustand der Meditation kann so die Beziehung zwischen dem Bewusstsein des Selbst und dem Nicht-Selbst, dem Anderen in uns, erkundet werden. In diesem Moment werden wir vom Mittler zum Objekt der Meditation des Ewigkeitswesens, unseres göttlichen „Zwillings“, der uns gerade ins Auge blickt.
Meditation ist also ein tief alchemisches Geschehen, das das gesamte Wesen mit einbezieht. Ein machtvoller Prozess der Selbsterkenntnis, der überwältigende Erhebungen verursachen, uns aber auch in die tiefsten Abgründe unseres Unterbewusstseins führen kann, wo das Licht des Seelengeistes unsere Schatten offenlegt. Unsere Meditation trägt vielfache Frucht: innere Erleuchtung zusammen mit wahrhaft körperlichen Transformationen, verursacht durch das Zusammenwirken der drei Bewusstseinsaspekte Geist, Seele und Körper. Mit der Zeit verstärkt sich die Verbindung zwischen diesen drei Seinsdimensionen mehr und mehr.
Wenn ein Mann oder eine Frau dieses Werk der Wiederherstellung des göttlichen Wesens vollbringt, dann gehen die segensreichen Auswirkungen weit über die persönlichen Belange des betreffenden Menschen hinaus. Denn der dreifache Mensch vom Anbeginn, der mikrokosmische Mensch, ist mit dem Makrokosmos verbunden. Als würde gleichsam der unberührte, ewige Schnee auf dem Gipfel geerntet, um der Menschheit am Fuße des Berges das reinste Wasser zu bringen, erfährt die gesamte Schöpfung (Mineral-, Pflanzen-, Tierreich und Menschheit) die Segnungen dieser Lichtäther.