Ein offenes Herz

Ein offenes Herz

Wir können die Sonne auf neue Weise begrüßen – wenn wir wahrhaft erwachen

… nachdem die Welt den Rausch aus ihrem vergifteten und betäubenden Becher ausgeschlafen hat und früh am Morgen der aufgehenden Sonne mit offenem Herzen, entblößtem Haupt und barfuß, fröhlich und jubelnd entgegengehen kann.[1]

Jeder Sonnenaufgang ist ein Erlebnis, jedoch nur selten nehmen wir dieses Erlebnis bewusst wahr: Wetter, Alltagsgeschäft usw. lassen uns diese besonderen Augenblicke oft übersehen, verpassen.

Ich versuche, soweit möglich, den Sonnenaufgang bewusst zu erleben, vor allem, wenn die Sonne an einem klaren Sommertag strahlend die Nacht und die Dämmerung verscheucht und die Wärme langsam die Glieder wohlig umfasst und zu einem neuen Tag erweckt. Im leichten Luftzug spielen die Blätter der Bäume und Gräser, Vögel zwitschern. Die Natur scheint für Augenblicke still zu stehen und erwartungsvoll auf die Sonne zu warten. Diese Augenblicke öffnen mein Herz, und ich kann die Einheit mit der Natur fühlen. Ist es nur die sichtbare Sonne, die mich in diese erhabene Stimmung versetzt? Ich fühle, es ist mehr, es ist  der Ruf der geistigen Sonne, die mich zieht, die mich ruft, die Beschränkungen unseres Lebens abzulegen und zu überwinden. Habe ich den Rausch aus dem vergifteten, betäubenden Becher ausgeschlafen? Dieser Ruf will mein Herz öffnen für eine höhere Dimensionen, für geistige, nicht von dieser Welt, stammende Einflüsse. Diese Berührung öffnet eine neue Welt.

Jedoch, mit dem Vorübergehen der magischen Augenblicke des wiedererwachenden Lebens in der Natur kommen das weltliche Getriebe, kommen die tagtäglichen Gedanken zurück, die Denk- und Lebensrichtungen, die vielen Probleme und Schwierigkeiten, die unseren Alltag erfüllen und zu beherrschen versuchen. Mir fallen einige Worte von Karl von Eckhartshausen ein:

Die Wasser der Gnade, die Tränen der Reue, werden durch den Strahl der Liebe von oben zur Reinigung gebracht, bis endlich die Sonne ganz Besitz von der Erde genommen hat und das vollkommenste Produkt erzeugt hat: die Regenerierte Erde. So ist die Vollkommenheit auch im Menschen derjenige Zustand, wo Gott durch eine Besitznahme des Herzens der Grund und die Triebfeder aller unserer Handlungen geworden ist.[2]

 

Wie kann ich zu dieser Vollkommenheit des Herzens, das von Gott in Besitz genommen werden kann, kommen? Die Großen des Geistes haben uns über die Jahrhunderte viele Hinweise gegeben und Möglichkeiten aufgezeigt, wie dieses Ziel erreicht werden kann[3]. Jan van Rijckenborgh und Catharose de Petri widmeten der Öffnung des Herzens einen breiten Raum in ihren Erklärungen der Transfiguration in der heutigen Zeit. In der Einleitung zu ihren Kommentaren zu Lao Tse’s Tao Teh King schreiben sie:

Aus Tao, aus der Gnosis entwickelt sich ein Quell, und aus diesem Quell entspringen Sein und Nicht-Sein, eine ewige unwiderstehliche Kraft, in welcher das unbewegliche Königreich steht wie ein Felsen. Das still gewordene Herz erfährt das Zittern der spirituellen Essenz Tao’s. Daher ist das Herz das Mysterium der Pforte des Lebens.[4]

Die spirituelle Essenz Tao‘s ist mir während der Augenblicke des Sonnenaufgangs sehr nahe. Was geschieht mit ihr unter dem Einfluss der Geschäftigkeit des Tages? Rückt sie in den Hintergrund, wird sie vergessen? Wir werden aufgenommen in unseren Alltag. Aufgenommen? Nein, gefangen genommen! Aber, wir können die Gefangenschaft dieser Welt überwinden, so die Verheißungen, die uns über die Jahrhunderte übermittelt wurden, und die Erfahrungen des zweifachen Sonnenaufgangs – im Äußeren und im Inneren – in unseren Herzen und im Bewusstsein wach erhalten.

Das offene, das still gewordene Herz ist der Schlüssel, und ein prachtvoller Sonnenaufgang ist ein Ruf, diesen Schlüssel zu nutzen. In der Betrachtung der Natur können wir intuitiv erfahren, dass sich unser Herz öffnet für andere, nicht von dieser Welt stammende Einflüsse. Lassen wir dann all die Bewegtheiten unseres Lebens in der Welt zum Stillstand kommen, halten wir das Herz still. Eine große Ruhe, mit der das Weltgetriebe wie von außen betrachtet wird, kann uns dann erfüllen. In dieser Ruhe steigt ein Gefühl der Verbundenheit und Liebe mit der Welt und der Menschheit auf. Dieses Gefühl eröffnet neue, unirdische Dimensionen, Dimensionen, die wir im Bewusstsein halten können, auch wenn wir uns unseren täglichen Notwendigkeiten zuwenden. Wir leben dann in der Welt, aber gleichzeitig – im Inneren unseres Herzens – befinden wir uns in einer anderen Dimension, in einem Zustand, der mit den Worten „in der Welt, aber nicht mehr von der Welt“ umschrieben wurde.

Mit einem neuen Bewusstsein, mit neuen Augen, sehen und erfahren wir dann die Welt. Die oft blitzartige intuitive Berührung und Erfahrung verändert uns, trifft unser Innerstes und erweckt ein Suchen, Sehnen und Drängen, das die Rosenkreuzer das „Heilbegehren“ nennen. Es ist der Beginn der Öffnung des Herzens, „das offene Herz“. Nun beginnt ein Prozess der Veränderung, der Transformation unserer gesamten Persönlichkeit. Er führt uns zu dem, was uns die alten Rosenkreuzer in der Confessio Fraternitatis übermittelten:

…. der aufgehenden Sonne mit offenem Herzen, entblößtem Haupt und barfuß fröhlich und jubelnd entgegengehen….

Die Worte deuten auf einen Prozess der Reinigung, der Öffnung, ja der Wiedergeburt des Herzens, des Hauptes und auf eine neue Tat hin. Es wird dann möglich, die Stimme der geistigen Sonne, die nicht von dieser Welt ist, zu hören und zu verstehen. Die Confessio Fraternitatis weist uns hierzu den Weg, indem sie auf die neue und stärker werdende Kraft des Planeten Uranus hindeutet, die als Feuer erfahren werden kann:

Ein ewiges Feuer, das keine Leidenschaften, keine Emotionen mehr besitzt, sondern wie ein Richtstrahl jenen gesandt wird, die in der Dunkelheit umherirren. Es ist das Liebesfeuer, das keinen Konflikt herbeiführt, das alles schön und herrlich werden lässt.[5]

Die Sonne ist nun schon hochgestiegen und nähert sich der Mittagsstunde. In meiner Seele schwingen jedoch der natürliche Sonnenaufgang und das Wunder des neuen Tages wie auch die intuitive Berührung durch die geistige Sonne weiter. Ich lebe in zwei Welten und während ich meine weltlichen Pflichten und Tätigkeiten ausführe, bleibt die innere Verbindung mit der geistigen Sonne im Hintergrund meines Bewusstseins bestehen. Dadurch nehme ich alles in neuer Weise wahr und fühle mich mit Welt und Menschheit in Liebe verbunden. Nicht immer bleibe ich in diesem Doppelbewusstsein. Oft überwältigen mich die Ereignisse des Tages und ich falle zurück in meinen „normalen“ Bewusstseinszustand, verliere die direkte Verbindung mit der geistigen Sonne. Es ist ein Kampf zwischen zwei Welten, der mich noch begleitet. Doch das innere Erlebnis des doppelten Sonnenaufgangs bringt mich wieder in den neuen Bewusstseinszustand zurück.

So wird es Abend und ich erinnere mich des Lobgesangs von Hermes:

So richte ich mit meiner ganzen Seele und mit all meinen Kräften diesen Lobgesang an Gott, den Vater:
Heilig ist Gott, der Vater der Universellen.
Heilig ist Gott, dessen Wille sich durch Seine eigenen Kräfte vollstreckt.
Heilig ist Gott, der erkannt sein will und erkannt wird von denen, welche Ihm angehören.

Heilig bist Du, der Du durch das Wort alles ins Dasein gerufen hast.
Heilig bist Du, nach dessen Bilde die All-Natur geworden ist.
Heilig bist Du, den die Natur keineswegs erschaffen hat.
Heilig bist Du, mächtiger als alle Mächte.
Heilig bist Du, vortrefflicher als alles, was ist.
Heilig bist Du, erhaben über alles Lob.[6]

 


[1] Jan van Rijckenborgh, Das Bekenntnis der Bruderschaft des Rosenkreuzes. Esoterische Analyse der Confessio Fraternitatis , 2. Auflage, Rozekruis-Pers, Haarlem 1971, S. 18
[2] Karl von Eckartshausen, Über die wichtigsten Mysterien der Religion, Rozekruis Pers, Haarlem, 1995, S.154
[3] Siehe zum Beispiel auch Das Herz wird licht und leicht und schöpferisch. Eine Reise durch die fünf Kammern des Herzens in diesem Heft.
[4] Jan van Rijckenborgh and Catharose de Petri, Die Chinesische Gnosis, Rozekruis-Pers, Haarlem, 1991, S. 64
[5] Jan van Rijckenborgh, Das Bekenntnis der Bruderschaft des Rosenkreuzes, a.a.O., S. 86
[6] Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Ur-Gnosis, Erster Teil, Rozekruis-Pers, Haarlem, 1961, S. 46

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