Thomas Steininger ist Philosoph und Kulturaktivist. Als Herausgeber von evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur und mit seiner Arbeit im Visionsteam von emerge bewusstseinskultur sieht er sich als „Teil einer Bewegung, in der sich Menschen begegnen, die dem „Geist in der Welt“ eine „neue, lebendige Ausrichtung geben möchten“. Im Zentrum der Aufmerksamkeit und Arbeit von emerge und evolve stehen neue neuen Formen kreativen und kommunikativen Zusammenseins.
L.: Thomas, weshalb der Name emerge und wie würdest Du das Ziel und den Inhalt Eurer Arbeit beschreiben?
Emergenz
T.S. „Emergenz“ bedeutet, dass etwas entsteht, dessen Eigenschaften sich nicht auf die Eigenschaften der Elemente zurückführen lassen, aus denen es entstanden ist. Aus Materie emergiert Leben. Aus Leben entsteht Bewusstsein. Wie ist das möglich? Das nennt man Emergenzprobleme: das Neue lässt sich nicht aus dem Alten erklären. Eine neue Qualität entsteht aus der Gegenwart, nicht aus der Vergangenheit. Emerge praktiziert eine Dialogform, bei der in der Begegnung etwas Neues entsteht, eine Art synergetische Intelligenz, die uns in einen Wir-Raum führt, der mehr ist als unser individueller Raum.
L.: Es geschieht etwas im Bewusstsein, das gleichzeitig über das Bewusstsein des Einzelnen hinausgeht?
T.S.: Ja, dazu möchte ich etwas ausholen. Wir leben in einer hoch individualisierten Kultur und sind es gewohnt, die Welt radikal aus unserer Ich-Wahrnehmung heraus zu sehen. Kulturgeschichtlich ist das aber eine enorme Leistung. In unseren indigenen Vorzeiten, in denen wir in einem Stammesbewusstsein lebten, gab es dieses Ich-Bewusstsein nicht. Es gab nur eine kollektive Selbstwahrnehmung. Auch in traditionellen Gesellschaften nehmen sich Menschen hauptsächlich als Ausdruck der Kollektivität wahr. Wir haben in Europa kulturgeschichtlich einen Prozess durchlaufen, in dem wir durch verschiedene Kultursprünge – die Geburt der Philosophie in Griechenland, die Renaissance, die Moderne – zu einer starken Ich-Wahrnehmung gefunden haben. Einer der Ausdrücke, die das im modernen Bewusstsein verankern, ist Rene Descartes‘: „Ich denke, also bin ich“. Dieses Ich-Bewusstsein, das alles andere als Objekt wahrnimmt, ist einerseits eine große Errungenschaft: Nur wenn ich „ich“ sagen kann, kann ich Verantwortung übernehmen und entdecken, dass ich die Freiheit habe zu wählen. Die Entwicklung von Verantwortungs- und Freiheitsfähigkeit in diesem Ich-Bewusstsein ist der europäische Beitrag zur Kulturgeschichte.
Wir stehen an einem Kipp-Punkt
Die Kehrseite dessen ist die radikale Entfremdung gegenüber unserer Umwelt. Auch der grassierende Narzissmus, durch den wir nicht in der Lage sind, Dinge anders als aus unserer Selbstbezogenheit heraus zu sehen, kommt aus genau dieser Quelle. Wir gehen davon aus, dass dieser Individuationsprozess kulturgeschichtlich jetzt an einem Kipp-Punkt steht, an dem wir seine Begrenzungen und seine Schattenseiten wahrnehmen. Es entsteht das Bedürfnis, einen nächsten Schritt zu machen, eine Re-Integration in die Ganzheit, und es gibt die verschiedensten Ansätze, wie diese Reintegration stattfinden kann.
L.: Tauchen solche Krisen-Punkte nicht immer genau zum richtigen Zeitpunkt auf? Das Individuum muss ja einen bestimmen Bewusstseinszustand erreicht haben, bevor es erkennen kann, dass dieser überschritten werden kann oder überschritten werden muss.
T.S.: Ich sehe das nicht so sehr aus der individuellen Perspektive, sondern mehr aus der kulturellen, gemeinschaftlichen, denn interessanterweise ist auch unser Hyper-Individualismus ein gemeinsames Phänomen unserer Zeit. Das ist spannend: es hat mit dem Individuum zu tun und gleichzeitig ist das Individuum ein Ausdruck der Zeit, in der es lebt. Und wie du richtig sagst, scheint es, an der Zeit zu sein. Immer mehr Menschen und Gruppen suchen nach neuen Formen der Re-Integration ins Ganze.
Ein trans-individuelles Feld
Der emergent dialogue ist eine Dialogform, bei der wir uns auf das fokussieren, was zwischen uns geschieht, auf ein zwischenmenschliches dialogisches Feld. Das braucht keine Rücknahme der Individuation in ein prä-individuelles Wir-Bewusstsein. Es ist ein trans-individuelles Feld und um es wahrzunehmen, braucht es nicht weniger, sondern mehr Individuation, denn es setzt ein sehr persönliches Wahrnehmen und Verantwortungsgefühl für diesen Wir-Raum voraus.
Wobei ich noch hinzufügen möchte: Allgemein bezeichnet man als Wir-Felder meist Felder, in denen sich Individuen begegnen, und wenn eine wirkliche Begegnung zwischen Ich und Du stattfindet, ist das auch schon sehr viel. Spannend wird es aber, wenn es nicht nur eine Ich-Du-Begegnung ist, sondern wenn wir uns im Begegnungsfeld als solchem begegnen. Da ist ein Ganzes, das die Teile von Ich und Du übersteigt und das seine eigene Lebendigkeit aus der Begegnung hat. In größeren Gruppen ist das leichter wahrnehmbar als in Zweier-Gesprächen. Dabei geht es nicht um das Wir, es geht um die gemeinsame Gegenwärtigkeit. Diese Gegenwärtigkeit des Ganzen, die sich dann zeigt, nennen wir Higher-We, also ein Höheres Wir. Es geht dabei aber nicht um bloßes Gruppenbewusstsein. Gegenwärtigkeit schließt auch den Ort mit ein, die Natur, die Geschichte, die uns hierher gebracht hat. Die kreative Öffnung, die aus diesem Ganzen entsteht, besitzt alchimistische Kraft. Es wird eine Intelligenz, eine Schönheit frei, die aus dem Feld der Begegnung entsteht.
L.: Emergieren bedeutet: da kommt Neues in die Welt. Das findet heute an vielen Orten statt, das kann man spüren. Auf dem Weg des Rosenkreuzes geht es darum, eine Beziehung zu der Quelle zu finden, aus der heraus dieses Emergieren stattfindet. Da bin ich und da ist die Quelle. Ich stehe ihr gegenüber und sie ist doch auch irgendwie in mir. Dass wir diese Quelle des Lebens in der Tiefe des eigenen Innern erleben können, ist wohl eine Frucht der Individualisierung. Vor allem heute können wir die Quelle des Lebens in der Tiefe unseres eigenen Innern finden, in einer transzendenten Tiefe, die über unser Ego hinausreicht. Wir sind zweifache Wesen, deshalb können wir die Erfahrung machen, in unserem Innern tief mit uns selbst – als einem „Anderen“ – konfrontiert zu werden.
Du sprichst von einem Feld der Begegnung und von der Gegenwärtigkeit des Ganzen in einem solchen Feld. Das sind neue Erlebnisräume, und das kann verunsichern. Bleibe ich in einem Gespräch in meinem eigenen „Raum“, wie ich ihn bislang kenne, dann fühle ich mich sicherer, als wenn ich mich dem Neuen öffne.
Über sich hinausgehen
T.S.: Ja, es braucht eine reife Individualität, die diese Verunsicherung halten, die sich auf diesen fluiden Raum, diesen Gesprächsraum einlassen kann. Ich muss es geschehen lassen, dass wir uns jenseits der Grenzen meiner Gewissheiten treffen. Es braucht die Wahrnehmung des Raums in seiner Lebendigkeit und die Offenheit für das, was zwischen uns gerade geschieht, geschehen möchte,
L.: Welche Qualitäten braucht es dafür?
T.S.: Die Bereitschaft, über sich selbst hinauszugehen, und das bedarf einer hohen persönlichen Reife. Nur wenn ich gefestigt bin, kann ich mich auf etwas Neues einlassen. Gleichzeitig braucht es die Fähigkeit, mich loszulassen, also nicht in dem Gefestigt-Sein verfestigt zu sein.
(wird fortgesetzt in Teil 2)