Der kleine Häwelmann wird erwachsen  

Der kleine Häwelmann wird erwachsen  

Das Fremde kann magisch anziehend sein. Etwas drängt uns in unbekannte Weiten. „Mehr, mehr!“ schreit eine Stimme in uns. „Weiter, weiter!“

Theodor Storms Geschichte vom „Kleinen Häwelmann“ (*1), der mit seinem rollenden Bett bis in den Himmel fährt, spiegelt diesen inneren Impuls.Die Reise des kleinen Häwelmann beginnt überraschend, muss jedoch abrupt enden. Er wird aus dem Himmel verstoßen. Doch in der heutigen aufgeklärten Zeit kann für dieses Märchen ein Fortsetzungskapitel geschrieben werden…

„Mehr, mehr!“…

Als Kind hat mich das Märchen von Theodor Storm „Der kleine Häwelmann“  in Bann gezogen. Meine Eltern haben es mir erzählt. Es handelt von einem kleinen Jungen, der Häwelmann heißt. Nachts schläft er in einem Rollenbett und auch am Nachmittag, wenn er müde ist. Wenn er aber nicht müde ist, muss seine Mutter ihn in seinem Rollenbett in der Stube umherfahren, und davon kann er nie genug bekommen. Eines Nachts kann der kleine Häwelmann wieder nicht einschlafen. Die Mutter versucht ihr Bestes. „Mehr, mehr!“, schreit er unentwegt, bis seine Mutter irgendwann erschöpft in tiefen Schlaf versinkt.       Doch der kleine Häwelmann gibt nicht auf. Er zieht sein Nachthemd aus, hält sein Bein wie einen Mastbaum in die Höhe und hängt das Hemdchen als Segel daran. Mit beiden Backen fängt er an zu pusten. Und das Bettchen fängt an zu rollen, über den Fußboden, dann – gegen alle Gesetze der Schwerkraft – die Wand hinauf, dann kopfüber die Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinunter. „Mehr, mehr!“, schreit der kleine Häwelmann. Da schaut der gute alte Mond durch das Fenster und fragt ihn:

„Hast du noch nicht genug?“ „Nein“, schreit Häwelmann, „mehr, mehr! Mach mir die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren; alle Menschen sollen mich fahren sehen.“ „Das kann ich nicht“, sagt der gute Mond; aber er lässt einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen; und darauf fährt der kleine Häwelmann zum Haus hinaus, in die Stadt, in den Wald. Aber dort ist es still,  alle schlafen, die Menschen, die Tiere, und bis zum nächsten Tag will er nicht warten. Mit Hilfe des Mondes gelingt es ihm, bis an das „Ende der Welt“ und von dort auf einem Strahl bis in den Himmel zu fahren.

Diese Lust auf „Mehr“, dieser unbändige Entdeckerdrang hat mich schon als Kind tief berührt. Sind wir nicht alle mehr oder weniger solche „Häwelmänner“ und „Häwelfrauen“? Eine innere Unruhe treibt uns hinaus in die Welt, ob mit Rucksack, mit dem Camper oder dem Flugzeug. Es kann nicht weit und nicht fremd genug sein. Wir erklettern hohe Gipfel und entdecken weit entfernte Küsten, wir besuchen abenteuerliche Projekte und wagen gefährliche Expeditionen, getrieben von diesem „Mehr, mehr!“

Ja, wenn wir ehrlich sind, können wir sogar sagen: Unsere kollektive westliche Kulturgeschichte wird in diesem einfachen Märchen vom kleinen Häwelmann gespiegelt. Befeuert von einem unbändigen Expansionsdrang, haben wir uns die Welt einverleibt. Wir haben – meist ohne Rücksicht auf fremde Sitten und Gebräuche, ohne Rücksicht auf Natur und Klima, uns das genommen, was uns in die Hände fiel. „Mehr, mehr!“

Wie geht die Geschichte vom kleinen Häwelmann nun weiter?

Der Himmelsstürmer …

Am Himmel wird der kleine Häwelmann immer übermütiger. Er fährt geradewegs in den hellen Sternenhaufen hinein, so dass die Sterne links und rechts vom Himmel herabpurzeln. Und schließlich fährt er auch noch dem Mond, seinem treuen Begleiter, über die Nase, so dass dieser niesen muss und seine Laterne dabei ausbläst. Da befindet sich der kleine Häwelmann plötzlich in völliger Dunkelheit und Orientierungslosigkeit. Er ist ganz auf sich allein gestellt. Am Horizont erscheint das rote Licht der aufgehenden Sonne. Die Sonne sieht ihn mit ihren glühenden Augen an und sagt: „Junge, was machst du hier in meinem Himmel?“ „Und – eins, zwei, drei – nimmt sie den kleinen Häwelmann und wirft ihn mitten in das große Wasser. Da kann er schwimmen lernen“(*1).

Als Kind musste ich an dieser Stelle immer schlucken. Die unerbittliche Härte der Sonne fand ich kalt, unmenschlich und grausam. Ich war fassungslos. „Da kann er schwimmen lernen!“,  so heißt es ganz lapidar. Jetzt soll er selber sehen, wie er klar kommt! Aber wenn ich mir heute das Märchen von Theodor Storm noch einmal durchlese, entdecke ich eine hoffnungsvolle Schlusswendung, die mir als Kind nicht in Erinnerung geblieben ist. Es heißt dort am Ende des Märchens:

Und dann? Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!“ (*1)

Der kleine Häwelmann wird also doch nicht ganz allein gelassen. Eine Gruppe helfender Menschen rettet ihn aus dem Meer und zieht ihn ins Boot. Der kleine Häwelmann wird aufgefangen in einem „Beziehungsgeflecht“, in einem Gewebe helfender Kräfte.

Wir stehen als Beobachter unmittelbar vor der Frage: Hat der kleine Häwelmann etwas falsch gemacht? Muss er so etwas wie eine Strafe erfahren? Er ist doch nur in Begleitung des Mondes – der tief in ihm nagenden Sehnsucht – einem seelischen Impuls gefolgt. Und es gelingt ihm sogar, durch eigenen Antrieb in die Sphären des Himmels einzudringen. Doch der kleine Häwelmann ist in seinem Bewusstseinsvermögen noch kindlich und unreif.

Er ist der noch unmündige Himmelsstürmer. Völlig um sich selbst und seine Bedürfnisse nach „immer mehr“ kreisend, will er etwas sein, will er gesehen werden. Sein Expansionsdrang richtet sich auf alles, auch auf die geistig-himmlische Sphäre. Hier will er – völlig unvorbereitet – eindringen und sie sich zu eigen machen. Das kann und darf, auch zu seinem eigenen Schutz, nicht gelingen. Von der Sonne als geistigem Prinzip muss er in die irdische Sphäre zurückgestoßen werden. Für den kleinen Häwelmann gilt es zunächst einmal, die grundlegenden kosmischen Gesetze seiner eigenen Welt, der physischen Welt zu erfahren. Es geht für ihn, als eine große erste Aufgabe, darum, in wirklicher Fühlung und Anteilnahme die Geheimnisse der Natur und der Materie kennenzulernen. Nur auf dieser Grundlage wird er den ihm zustehenden Platz im Kosmos und seine geistige Aufgabe finden können.

 

Wir sind diese Welt – wir sind Materie von innen…

Die Geschichte vom kleinen Häwelmann braucht also eine Fortsetzung. Der Reifeprozess, den der kleine Häwelmann zu durchlaufen hat, ist eine Bewusstseinsentwicklung, vor der heute ein großer Teil der Menschheit steht. Es geht um ein fühlendes In-Verbindung-Treten zum Innersten der Schöpfung, zum Innersten des Menschen, zum Innersten der Erde, zum Innersten der Sonne.

In einem Lied der Rosenkreuzer heißt es: „Herz muss erst erschlossen sein!“ Hier, in unserem Herzen, liegt das Geheimnis der ganzen Schöpfung verborgen.  Das Paradoxe ist nun, dass alles Irdische, also jede Art von Materie, in ihrem Innern von einer Leere, von einer Sphäre des Nicht-Seins energetisiert und zusammengehalten wird. Materie ist nicht etwas vom Menschen oder vom Geist Abgetrenntes, Materie ist nichts „Totes“, sie ist in ihrem Kern zutiefst lebendig.

Wir sind diese Welt, ihre Materie. Diese Identität mit der Welt ist der Gegenstand unseres Fühlens. Sie ist es, worum es beim Fühlen in der Tiefe geht. (*2)

Die Erfahrung, lebendig zu sein, ist das Fundament jeder ökologischen und auch spirituellen Erfahrung.

Sie zu erfassen heißt, in der Tiefe mit der gesamten materiellen Welt verwoben zu sein. Die Erfahrung, lebendig zu sein, ein biologisches Subjekt zu sein, ist die Erfahrung, Materie von innen zu sein. Und daher ist es die Erfahrung, die Welt zu sein. (*2)

Biologie und moderne Physik (hier vor allem die Quantentheorie) kommen zu der Erkenntnis, dass ein Lebewesen durch seine Körperhaftigkeit nicht materiell vom Rest der Umwelt getrennt ist. Zwischen allen Lebewesen findet eine fortwährende „Verschränkung“ statt: eine gegenseitige Veränderung und Beeinflussung durch Teilnahme. Weiterhin existiert die fundamentale Erkenntnis der modernen Physik, dass ein Körper – also auch der des Menschen – in seiner Tiefe keine feste Materie ist. Das meiste, was uns ausmacht, ist Leere.

Max Planck schrieb:

Es gibt keine Materie, sondern nur ein Gewebe von Energie, dem durch intelligenten Geist, wer immer das auch ist, Form gegeben wurde. Dieser Geist ist Urgrund aller Materie. (*3)

Der Quantenphysiker und Philosoph Hans-Peter Dürr sprach immer wieder davon, dass sich in der Tiefe das Feste der Materie als Beziehung zeigt. Und Andreas Weber, Biologe und Mystiker, geht noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt:

Aber Beziehung ist noch nicht alles: In der Tiefe speist sich jede Beziehung aus dem Begehren nach Verbindung zwischen den einzelnen Elementen. Dieses Begehren wäre also das eigentliche Innere der Körper und damit auch aller Wesen. In der tiefsten Tiefe ist die Welt nicht Beziehung, sondern Begehren nach Lebendigkeit. Dieses Begehren ist nicht äußerlich, nicht strukturell, nicht abstrakt, sondern reine Innerlichkeit: das Innere des Wunsches, dass Leben sei. Dieser Wunsch ist das Zentrum, der Anfang und das Ende des Kosmos. Er formt die Kelche der wilden Rosen im Juni und spricht durch die Tonfolge des Liedes der Grauammer. (*4)

Fruchtbare Identität ist die Freude der Materie an sich selbst

Es ist dies eine Sichtweise auf die Welt, in der alle und alles miteinander in Beziehung stehen und miteinander verflochten sind. Jeder Eindruck, den wir irgendwo in der Natur hinterlassen, wird in aller Natur erkannt und wahrgenommen. Die Erfahrung eines persönlichen Selbstes geschieht nicht nur als eine eigene, separate Identität, sondern die eigene Identität kann sich erst durch die Verflechtung mit unzähligen anderen Identitäten fruchtbar entwickeln. Seine Identität zu entwickeln bedeutet nicht, den Anderen auszugrenzen. Es geht vielmehr darum, mit ihm in Beziehung zu treten, selbst zum Anderen zu werden, um durch ihn mit der eigenen Identitätsbildung fortzufahren.

Eine Schlüsselqualifikation dieser Identitätsbildung ist das Fühlen. Über das Fühlen können wir unser Sein als Ineinandersein erleben. Wir sind alle ein und dieselbe Materie und verwandeln uns aneinander. Der Felsen, den ich mit meinen Händen berühre, das Wasser, das mich als Meereswelle emporhebt … alles verwandelt sich durch Reibung aneinander. Fühlen ist nicht etwas Selbstbezogenes, das sich nur mit der eigenen Identität befasst. Fühlen ist das Anzeichen dafür, inwiefern es einem Individuum gelingt, Welt zu sein und gleichzeitig seine Einmaligkeit zu verwirklichen. Da diese Einmaligkeit nur durch die Materie, also die Welt entstehen kann, kann das Fühlen einer fruchtbaren Identität in der Tiefe als die Freude der Materie an sich selbst charakterisiert werden.

Vertreter der modernen Tiefenökologie und Quantenphysik gehen davon aus, dass ein Organismus, der sich durch seinen fortgesetzten Stoffwechsel selbst verwirklicht, gleichzeitig dem Anderen Raum gibt. Das so realisierte eigene Selbst ist somit in der Tiefe sein eigenes Gegenteil, das Nicht-Selbst.

Das Universum ist beseelt von dem Begehren, Leben und Lebendigkeit zu spenden…

In einem größeren Zusammenhang gesehen, ist die Naturgeschichte des Kosmos nicht neutral, wie es die Wissenschaft bisher immer annahm.

Dem Universum geht es um etwas. Es hat einen Drang, mehr Lebendigkeit in die Welt zu bringen. Die Wirklichkeit ist ein Potential, das sich nach Entfaltung sehnt. Am Anfang steht das Begehren des Einen, sich zu verschenken, Leben zu schenken. Es ist denkbar, dass es nichts weiter braucht als diese kosmische Sehnsucht, Fruchtbarkeit zu stiften. […] Das Verlangen, dass sich die innere Fruchtbarkeit immer wieder in Leben manifestiere, führt zu einer Aufspaltung des Ganzen. Die Aufspaltung bringt eine individuelle Sehnsucht nach Verbindung und ein ebenfalls in den Individuen wirksames Begehren hervor, selbst weiter Leben zu stiften. Diese beiden Sehnsüchte entspringen im Grund einer einzigen, nämlich der, dass Leben sei. Sie haben zur Folge, dass die unendliche Vielzahl von Verbindungen und Verwandlungen erforscht wird, durch die sich die so verknüpften Einzelteile immer wieder ineinander, zurück ins Eine, und in neue Individualitäten transformieren. (*5)

Damit entsteht eine völlig neue Perspektive auf die „kosmische Bedeutung“ des Fremdseins. Es gibt einen Urgrund, ein anfängliches Begehren aus der Leere heraus, sich zu öffnen, sich in Formen zu offenbaren, sich zu differenzieren und in dieser Differenzierung sich selbst kennenzulernen. Die Differenzierung des Urgrundes findet beständig weiter statt, und sie folgt dem Begehren, Leben zu spenden, Sein ins Leben zu rufen. Durch das Fremdsein entsteht das Begehren. Die Geschöpfe reiben sich aneinander. Das Universum hat den Drang, Lebendigkeit zu vermehren. Wir können daran teilhaben, wenn wir die kosmischen Gesetze kennen und die „Anweisungen der Weisen“, die von altersher gegeben wurden, beachten. Dann sind wir wahrhaft schöpferisch.

Überall will Bewusstsein erwachen, bis hin zum Bewusstsein der inneren Essenz in allem. In der Tiefe unseres Herzens existiert die Liebe, die mütterliche Kraft des Stoffs, die Mater-Materia. In ihr wirkt der Wille, dass Leben sei. In dieser Mater-Materia ist das Nicht-Sein enthalten, der Innenraum der Mütterlichkeit selbst.

Wir können diese Liebe im Innersten erspüren und erfühlen, in unserem Herzen, dort, wo wir eins sind mit dem Innersten der Welt und dem Innersten der Sonne. Aus dieser innigen Herz-Verbindung können wir mitten in der Welt stehen, mit einer Sehnsucht, uns ganz zu verschenken, ganz dienstbar zu sein, „essbar zu sein“(*2). Wir können fruchtbar sein, wenn wir in unserem Nicht-Sein, in unserer inneren Leere ruhen.

Jesus, der Christus sagt:

Nehmt und esst, dies ist mein Leib für euch; tut das zu meinem Gedächtnis!

Der kleine Häwelmann ist dann erwachsen geworden, wenn er im Universum schöpferisch und fruchtbar sein möchte, wenn er sich ganz ins Irdische zu geben vermag und dies, wie Rilke in den Sonetten an Orpheus schrieb, „um des Nichtseins Bedingung“. Wer fühlend verstanden hat, dass in der eigenen leeren Mitte das ewig Fließende als Geheimnis existiert, ist in der Lage, wahrhaft zu lieben und in Hingabe zu dienen.

Die Liebe ist die größte Macht, die es gibt, denn sie ist die einzige Macht in dieser Welt, die nicht von dieser Welt ist. (*6)

 

Literatur:

*1 Theodor Storm, Der kleine Häwelmann (1849), aus: Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1967, S. 339-342. Text (gemeinfrei): http://www.zeno.org/nid/20005726506
*2 Andreas Weber, Essbar sein, Klein Jasedow 2023, S. 127
*3 Max Planck, zitiert nach: https://manifestation-boost.de/max-plancks-gr%C3%B6%C3%9Fte-erkenntnis-es-gibt-keine-materie/
*4  Andreas Weber, Essbar sein, Klein Jasedow 2023, S. 129
*5 Andreas Weber, Essbar sein, a.a.O., S. 133
*6 Llewellyn Vaughan-Lee, For Love of the Real. A Story of Life`s Mystical Secret, Golden Sufi Center 2012

 

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Datum: Juni 7, 2025
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