Ich erfuhr, wie es ist, wenn Musik gleich einem Feuer im Moment geboren wird, aus dem Herzen entsteht, um sich wegzuschenken – ohne Wollen, ohne Absicht.
Auf einem Schiff, einer Fähre, ich war einige Tage unterwegs, lernte ich eine Familie kennen, die sich auf einer ausgedehnten Reise befand. Der Mann, mittleren Alters, erzählte mir unten stehende Episode. Da ich von dieser Begegnung auf eigenartige Weise und für mein weiteres Leben nachhaltig berührt war, hier nun einige Auszüge.
1
Bei einem meiner letzten Besuche im Hause, in dem ich groß geworden, brachen meine betagten, nichts desto weniger rüstigen und aufmerksamen Eltern zusammen. Beide! Es war nach einem Konzert mit meinem Quartett. Wie zu erwarten, eigentlich wie immer, großer Erfolg, gute Presse etc. Neuerliche Einladungen für eine Tournee ins Ausland; Lehrverpflichtung als Gastprofessor, „meine“ zwölfte CD, und und und. Gefeiert und geehrt an diesem Abend von der Familie.
Ich hatte schon einige Gläser Wein getrunken. Zu diesem Anlass den besten Tropfen, wie es sich versteht. Durch einen Schleier, der wie eine dumpfe Decke über mir lag, bekam ich die Gespräche mit. Höhepunkt der Karriere, wenn’s so weiter geht, dann …, wir sind mächtig stolz auf dich; durch deine Tüchtigkeit …; ja und wir, wir haben eben schon früh dafür Sorge getragen. – – – Ein unermesslicher Zorn stieg in mir hoch, meine Frau und meine Eltern ein Herz und eine Seele. Scheinbar eint auch der äußere Erfolg eines anderen. Und etwas in mir, wenn ich nur genau wüsste was, fing an, meine Eltern zu beschimpfen. Sie hätten mein Leben zerstört, wollten von Anfang an nur, dass ich ein großer Musiker werde, meine Kindheit bestand in erster Linie aus Üben. Wie die Affen im Zirkus wurde ich dressiert; natürlich die Geige, was sonst. – Bilder der Kindheit: das Lob, wenn ich brav, der Tadel, wenn manche Stücke und Läufe nicht so, wie erwartet. Der dumme, kleine Ehrgeiz frustrierter Musiklehrer, Mutter Klavier, Vater Cello und Orgel. Und wieder sehe ich ihn, wie er dunkel und ernst gekleidet zum unzählbarsten Male in der Kirche die Orgel spielt; jene Kirche in unserer Stadt, wo ich schon als Kind Erstickungsanfälle bekam. Einmal, wie genau sehe ich’s jetzt, mussten sie mich hinaus tragen. Der Arzt kam; eine Woche Krankenhaus. Man fand nichts; was denn hätte man auch finden sollen?
2
Alles bricht hervor, was Jahrzehnte lang, mir schien’s Jahrhunderte, im erstickenden Moder unserer Künstler–Dynastie – wie lächerlich wichtig sie sich alle vorkamen, vorkommen, einschließlich meiner Person! – was also unausgesprochen, ungelebt geblieben war: die Sehnsucht der Seele nach Wahrheit, nach Erfüllung. – Meine Eltern, genauso stecken geblieben wie ich, auf der unsäglichen, verlogenen und plumpen Kulturleiter; der Sohn eben ein paar morsche Sprossen weiter oben, wo sie alle hinwollten, vor allem Mutter, glaube ich. Ich schimpfte, wie ich es in den Tagen der Jugend nie getan – ja, nie getan und auch danach nicht, wo ich brav und angepasst …, sie hätten mir mein Leben geraubt; Vampiren gleich hätten sie gesaugt, um ihr Ego auf Kosten ihrer Kinder, besonders meines, zu füttern.
Mein Vater bekam damals einen Herzanfall, griff sich mit der Hand an die Brust und schluckte seine Pillen. Keine Ahnung, seit wann er die nimmt. Und Mutter, die hat gleich wieder ihre Galle gespürt. Ich war zornig, wie ich mich bestenfalls als Kind erlebt hatte. Meine Frau funkelte mich an, ob ich nicht ganz dicht sei. Es stimmt sicher, ich war damals nicht ganz dicht; der Alkohol, die Spannung, die alte, gewohnte Atmosphäre. Am nächsten Tag tat mir die Sache leid. Aber irgendwie konnte ich mich nicht entschuldigen. Natürlich bin ich froh, dass meine Kinder dies nicht miterlebten. Was hätten die von ihrem Vater denken sollen. – Das, was wahr ist, so wie du bist, du Spießer! schoss es mir da durch den Kopf.
Die nächsten Tage durfte ich in unserem Gästezimmer übernachten, worüber ich in Wirklichkeit froh war. Meine Frau hatte überhaupt keine Lust, mich zu sehen.
Es waren die Tage vor Weihnachten, für mich die schlimmste Zeit des Jahres; laut, grell, so unverschämt sind die Lügen sonst nie. Krankheitshalber sagte ich weitere Konzerte ab. Nervenzusammenbruch, Überlastung des feinnervigen Künstlers und ähnliches berichteten die Kulturseiten der lokalen Presse. –
Wie herrlich wenig mich das alles interessierte. Am liebsten hätte ich ein Interview gegeben, um den Zusammenbruch – nicht meiner Nerven, die erholten sich so rasch, wie der Alkohol aus dem Blute war – sondern des ganzen aasig miefenden, nichts-sagenden Kulturbetriebes zu verkündigen.
3
In den Tagen darauf, die familiäre Situation normalisierte sich einigermaßen, ging ich mit meiner Frau – und wieder die Frage, die sich in meinem Labyrinth festsaugte: was ist das eigentlich: LIEBE? – durch die winterliche Stadt und hörte von weit her eine Musik. Genau genommen, hörte ich nur eine Klarinette. Der Klang verzauberte mich. Beim Näherkommen sah ich eine Gruppe von vier Musikanten, drei Männer, eine Frau, ein Hund. Bunte Gewänder, breite Hüte, lange Haare. Ein großer Kreis von Menschen, der sich da herum gebildet hat; vor allem Kinder, wie ich staunte. Grüß’ Sie, Herr Professor, dass Sie sich so etwas anhören?, hörte ich einen mir süßlich wohlgesinnten Kulturredakteur unserer Stadt, geht’s schon besser? Ein plötzlicher Schmerz schnürte meine Kehle zu und ich fing an, zu heulen wie ein Kind, das sein Liebstes verloren hat. Konnte mich nicht halten. Wie von Ferne meine Frau, besorgt: Komm, lass uns gehen. Nein, ich bleibe, muss bleiben, geh du nur, geh. Und wieder: Der Ton der Klarinette. Er brannte sich in mein Herz.
Muss dann mein Bewusstsein verloren haben und wachte irgendwann in einem Rettungswagen wieder auf. In diesem kurzen Moment der Ohnmacht hatte ich einen Traum, oder war es gar kein Traum, sondern irgendeine Art von Wirklichkeit? In jenem Traum sah ich mich als eine dieser Komikfiguren mit einem dunklen, dicken Panzer wie ein Insekt. Mit meinem Rüssel saugte ich in der Gosse das Blut der Menschen, sah wie dieses sich verwandelte in den harten Panzer, sah auch meine Mitmenschen als insekten- oder sonst tierähnliche Komikfiguren, die ihre Mit-Karikaturen aussaugen – doch als Menschen konnte ich sie nicht erkennen.
Und, ganz klein und zart, in der Mitte meines Herzens ein heller Punkt, der glich einem Menschen, dem Menschen. Und der Ton der Klarinette, der war in diesem Traum ein Speer aus Licht; ja, ein Speer aus Licht, der den Panzer des Insektenkörpers aufbrach, aufknackte; mich – das Insekt also – lahm legte; nein, mehr: das Insekt tötete.
Im Rettungswagen konnte ich mich nicht gleich erinnern an den Traum, das kam so nach und nach. Von der Ambulanz wurde ich mit einem Haufen Medikamente bald heimgeschickt: Einer der Ärzte, so bemüht wie wichtig, wohlmeinend: Nichts Organisches, aber er muss auf sich aufpassen, empfehle Kontrolle und Untersuchung, stationär im neuen Jahr dann; jetzt sind wir ganz und gar voll, und dann eine Kur, lauter solche Geschichten, wie immer vor Weihnachten, da geh’n den Menschen die Nerven durch. Bla bla bla, ergänzte ich in Gedanken. Schwachsinn, alles derselbe Schwachsinn. Begreift denn niemand etwas?, dachte ich mir. Nein, sie begreifen so wenig; durch wie viele Herzinfarkte, wie viele Tode und so weiter müssen wir gehen, bis wir begreifen, endlich begreifen? Und das Schmerzvollste – ich selbst mitten drin.
4
Ich redete in meinen Gedanken damals natürlich leicht, denn nun wusste ich mich ja bereits gestorben, besser: ermordet. Das Insekt mit dem dunklen Panzer, diese Komikfigur (nicht einmal eine Karikatur von mir, kam es mir empört), war tot und mit ihm der international bekannte Solist, Sohn unserer Stadt.
Kindliche Freude (die ich selten als Kind erlebte) begann mit einem Mal, mein ganzes Wesen zu durchströmen – sie nahm irgendwo in meiner Mitte ihren Ursprung.
Als wir nach Hause kamen, warf ich als erstes die Medikamente mit großer Kraft und Freude in den Müll, holte die Geige (die teuerste, eine mit unerhörter Geschichte, so etwas gibt es kaum ein zweites Mal, höre ich die neidigen Kollegen im Ohr), gab sie meiner Frau mit der Bitte, sie doch zu verkaufen und vom Erlös eine Zeitlang zu leben, und sollte dies nicht ausreichen, ich hätte ja noch immerhin zwei weitere, nur wenig minder wertvolle Stücke. Sie möge alle Termine absagen, krankheitshalber, wie die Zeitung es schon wisse. Meine Liebe, so gesund wie in diesem Moment habe ich mich mein ganzes Leben nie gefühlt, und ich ahne nun, was Musik ist. Sag den Kindern, wenn sie aus der Schule kommen, sie müssten sich keine Gedanken zu machen, sie sind es eh gewohnt, dass ihr Vater immer mal einige Wochen auf Tournee ist. Sie können sich meiner Liebe sicher sein, solange ich lebe. Und meinen Eltern richte aus, dass mir das von damals leid tut. Ach, diese Eltern; ehrlich, wer von uns kann denn oder will aus seiner Haut heraus, wenn da keine Notwendigkeit ist – so wie zum Beispiel jetzt bei mir?
Ich holte einen alten Seesack aus dem Keller, stopfte wenige Sachen hinein, meinen alten, langen schwarzen Mantel, einen Hut, Schal, Handschuhe (solche mit abgeschnittenen Fingerspitzen, sie sind irgendwo übrig geblieben) und nahm die billige Geige meines Sohnes mit (er liebte das Geigenspiel nur wenig, wahrscheinlich spielte er doch nur aus Gewohnheit der Familie).
Mit einem Gefühl, als wär’ ich neu geboren, eine neue Jugend durchpulste meine Adern, machte ich mich auf den Weg hinunter in die Stadt zum Platz, wo die Musiker spielten. Wie inniglich hoffte ich doch, sie zu treffen. Doch, erwartungsgemäß, waren sie nicht mehr da. Ich fragte herum, da und dort, ja, eine wunderbare Musik, fanden Sie nicht auch, selten so etwas gehört, haben Sie gesehen, welche Freude auf den Gesichtern der Menschen stand, als sie den Vieren zuhörten? Das alte Insekt in mir bäumte sich plötzlich auf, empört, aber im selben Moment spürte ich den Speer wieder in meinem Herzen und musste schallend lachen – über das Insekt, das meinen Namen trägt; aber ist dies tatsächlich mein Name, mein richtiger Name?
Am Nachmittag seien sie auf der anderen Seite der Stadt, auf einem alten Platz, ich möge doch gerne hinkommen, sagte ein alter Mann neben mir mit freundlichem Lachen, das ich mit tiefem Dank aufnahm. Es stellte sich heraus, dass er die Gruppe in die Stadt eingeladen hatte, sie wohnten bei ihm, nicht weit auf dem Lande.
5
Später lernte ich den Klarinettisten kennen und fragte ihn, ob ich von ihm Musik lernen könnte, ich tät’ einige Instrumente spielen, aber Musik müsste etwas anderes sein, etwas, das ich hörte im einfachen Spiel der wandernden Gruppe.
Die nächste Zeit reisten wir von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, lebten von den Einnahmen auf der Straße, wurden da oder dort manchmal zum Essen eingeladen und hatten wunderbare Begegnungen. Damals war mir das Leben wie ein Sturm der Freiheit, der aus dem Inneren herausbrach. Die Entbehrungen der Kälte im Winter, der Hitze im Sommer; wie oft packten wir unsere Instrumente ein und aus, wenn Regenschauer kamen; und es war nichts, ob Regen, ob Hitze, ob sonst was. Ja, und ich spielte die Geige, lernte Klarinette, lernte ganz und gar auf die lebenden Noten aus dem Inneren zu hören, erfuhr, wie es ist, wenn Musik gleich einem Feuer im Moment geboren wird – kennt dieses etwas anderes als die Gegenwart? – aus dem Herzen entsteht, um sich wegzuschenken – ohne Wollen, ohne Absicht. Vor allem ohne Absicht, gut zu sein oder gefallen zu wollen. Der Lohn der Freude ist doch Freude, oder etwa nicht?
Mein Leben ist von der Musik geprägt. Aber erst auf der Straße oder in manch abseits gelegenem Innenhof erlebte ich damals das Gefühl, die Menschen in ihrem Inneren, jenseits der Insekten-Maske, durch das Spiel zu berühren. Wie oft fingen nicht die Kinder zu tanzen an, danach etwas steif oder zaghaft zögernd die Erwachsenen – wie in einer kurzen Ruhepause der Seele, ein kurzer erholsamer Urlaub von der Front, bevor die Schlachten des Lebens die Menschen wieder einsaugen.
Wochen und Monate gingen dahin, und einmal, da hatte ich wieder einen Traum, wie als Erinnerung an eine Zukunft, die schon begonnen hat: Das Insekt liegt lahm am Boden, es lebt noch, schwach, doch kann es gegen das Feuer, das entstanden ist, nicht mehr an, ja wird langsam von diesem verzehrt. Und aus dem kleinen Fünklein in der Brust wird erst eine Flamme, dann ein Feuer, klar und leuchtend, wärmend, strahlend wie die Sonne, doch ohne zu brennen; Licht spendend mit einem neuen Ton: dem Klang der Weltseele, einem Klang aus der Tiefe des Herzens, der durch uns hindurch klingen will zu den Ohren der Menschen, die sich sehnen. Wonach nur sehnen wir uns?
6
Musiker sein, der die Musik in sich trägt, jeder kann es. Er braucht dazu keine besonderen Instrumente.
Der Ton – das Licht des Herzens, entzündend seinesgleichen in den Herzen der Menschen; es entfachend zum Frieden, jenseits allen Verstandes,
es entfachend zu einem Glück, in Worten nur anzudeuten; flammendes Feuer der Gegenwart.
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Nachwort
Der Musiker erzählte mir dann noch, dass er keine klassischen Konzerte mehr spiele, jedoch mit Schülern und Studenten arbeite. Die Musik sei ja doch die Sprache des Universums, ja auch die des Herzens; allerdings müssten wir uns frei machen von den Konventionen und wieder lernen, dem Klang unserer Herzen zu folgen, dann fänden wir auch zu einem rechten Denken und klaren Verstand. Und natürlich, wir müssten uns interessieren für das Geheimnis, weswegen wir letztlich geboren sind. Ich fragte noch, wie das mit seinen Eltern weiter gegangen sei. Er schmunzelte und Heiterkeit lachte aus den Augen; sie seien beide in Pension, längst sei jeder Groll erloschen und habe Freude und herzlicher Freundschaft Platz gemacht.