Nach einer Nahtoderfahrung sagen sich viele, dass sie sich selbst in ihrem Leben fremd geworden waren. Und das ist wiederum vergleichbar mit Platons Höhlengleichnis.
Wenn man durch eine Nahtoderfahrung erkannt hat, dass man gleichsam in der Höhle ist und eigentlich die Heimat ganz woanders ist, nämlich außerhalb der Höhle, dann muss man sich wieder ganz neu mit dieser Höhle anfreunden. Auf andere Weise als zuvor wird man zu der Welt „ja“ sagen können.
Gunter Friedrich (LOGON) interviewt Prof. Dr. Enno Edzard Popkes (Universität Kiel).
G.F. :
Herr Popkes, ich freue mich, dass ich Sie interviewen darf. Sie sind Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt und forschen auch zu Tod und Sterben. Eine ganze Reihe Ihrer Veröffentlichungen betrifft die Themen Platonismus, Thomasevangelium und Nahtoderfahrungen. Was hat Sie veranlasst, zu dieser Dreiheit zu forschen?
E.E.P. :
Ich fange mal biografisch an. Das erste Thema, das mich sehr stark bewegt hat in meiner Jugend, war das Thema Nahtoderfahrungen. Ich war etwa 13 oder 14 Jahre alt und stieß in einem christlichen Buchladen durch Zufall auf das Buch von Raymond Moody und war gleich begeistert davon und fragte meine Bekannten, was sie davon hielten. Sie sagten: Das sind alles Halluzinationen, das kann gar nicht stimmen. Und mit der Bibel stimmt es auch nicht überein. Das hat mich so angestachelt, dass ich mich früh dazu entschieden habe, Philosophie und Theologie zu studieren, in der Hoffnung, das Thema dort näher kennenzulernen. Aber da kam nichts. Ich habe mich dann mit Bereichen beschäftigt, die nahe daran liegen. Im frühen Christentum gibt es viele Phänomene, die mit Nahtoderfahrungen vergleichbar sind. Ich habe mich sozusagen indirekt auf das Thema zubewegt. Ich kann heute sagen, dass die Themen Nahtoderfahrungen, Platonismus und Frühes Christentum sich wunderbar zusammenfügen und die Möglichkeit eröffnen, das zu diskutieren, was damals in der Geschichte des frühen Christentums geschehen ist.
G.F.:
Was hat das für eine Bedeutung für unsere Zeit?
E.E.P.:
Wir haben ja ein großes Jubiläum vor uns, das zweitausendjährige Jubiläum des Wirkens Jesu. Ganz viele Deutungen der Gestalt und Botschaft Jesu, die damals im Umlauf waren, sind seinerzeit verurteilt und verdrängt worden, unter anderem auch das Thomasevangelium. Als Historiker sehe ich es als meine Aufgabe an, diese Zeugnisse und die Funde, die man inzwischen gemacht hat, in die Geschichte des frühen Christentums einzuzeichnen. Meines Erachtens kann es für Theologie und Kirche nur wertvoll sein, auch jene Stimmen zu hören, die damals verdrängt worden sind. Wir leben ja in einem Zeitalter der Aufklärung, das heißt, dass wir selber entscheiden sollen, was plausibel und überzeugend ist. Wir können schauen: Ist da vielleicht Wertvolles verlorengegangen, was wir heute diskutieren sollten? Und ich sage ganz klar: Ja. Wertvolle Stimmen sind verloren gegangen.
G.F. :
Was ist für Sie das Spannendste am Thomasevangelium?
E.E.P. :
Das Spannendste ist der Gegensatz zwischen dem, was ich in meiner Doktorarbeit und meiner Habilitationsschrift verarbeitet habe. Meine Doktorarbeit ging über die johanneischen Schriften und insbesondere über das Johannesevangelium und meine Habilitationsschrift über das Thomasevangelium.
Beide Werke verbindet die Vorstellung, dass Jesus sagt: Ich bin das Licht. Dieses Jesuswort gibt es in zwei Varianten, bei Johannes und bei Thomas. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Schriften sind die Konsequenzen. Das Johannesevangelium sagt: Jesus ist eine Menschwerdung Gottes, aber nur er. Das Thomasevangelium sagt: Jesus ist eine Menschwerdung Gottes, aber alle sollen zur Menschwerdung Gottes gelangen. Das ist der Kernunterschied der konträren Deutungen der Gestalt und der Botschaft Jesu. Meine Kollegen, die sich damit beschäftigen und ich selbst sind der Überzeugung, dass das Thomasevangelium und das Johannesevangelium nicht durch Zufall aufeinander bezogen sind, sondern dass sie in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang miteinander entstanden sind. Der Diskurs zwischen diesen beiden Werken wurde aber abgebrochen. Heute können wir ihn wieder aufnehmen und neu beleben.
G.F.:
Das Thomasevangelium formuliert ja eine tiefe Erkenntnis: Das Himmelreich ist in euch. Das ist doch eine Aussage von universeller Bedeutung.
E.E.P. :
Absolut. Das Thomasevangelium ist ein christlicher Text, aber der Begriff Christus kommt darin gar nicht vor. Der Text hat einen universalen Anspruch. Jesus sagt dort in Logion (Jesuswort) 77: Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Das All ist aus mir hervorgekommen und das All strebt zu mir zurück. Hebt einen Stein auf und ich bin darunter und spaltet ein Holz und ich bin darin. Das heißt, er ist omnipräsent und ist damit natürlich auch in jedem Menschen präsent. Es ist ein universaler Anspruch.
GF.:
Ob man nun das, was jedem Menschen geistig-seelisch zugrunde liegt, Jesus nennt oder anders, spielt dann keine Rolle. Die Botschaft ist für einen Buddhisten oder einen Hinduisten oder für andere genauso gültig wie für den, der sich Christ nennt.
E.E.P.:
Das sehe ich genauso. Ich stehe als Christ und als Wissenschaftler in der christlichen Tradition. Die ganz konkrete Gestalt Jesu ist für mich ein menschlicher Anknüpfungspunkt, an den ich in meiner Forschung anschließe. Ich thematisiere Gott nicht als metaphysisches, unpersönliches Prinzip, sondern als konkrete Gestalt.
Das Faszinierende ist, dass das Thomasevangelium ebenso wie zum Beispiel das Weltbild Platons eine hochreflektierte Seelenwanderungs- und Seelenwachstumsvorstellung hat. Jesus ist dann ein Beispiel für eine vollkommene Menschwerdung Gottes, die möglich ist.
G.F.:
Jetzt könnte man ja sagen: Wunderbar, ich studiere diese Schrift und dann gelange ich zu einer tiefen Selbsterkenntnis. Nun fängt aber diese Schrift mit einer ziemlichen Zumutung an. Gleich am Anfang, als Einleitung, heißt es: Das sind die geheimen Worte, die der lebendige Jesus sprach. Und es geht weiter in Logion 1: Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken. Es gibt keine einzige Schrift in der Bibel, die so etwas sagt. Wie soll man damit umgehen?
E.E.P. :
Als Historiker habe erst mal die Aufgabe zu beschreiben, was für ein Konzept dahinter steht, und erst in einem zweiten Schritt komme ich zu der Frage, welche Konsequenzen das hat. Dass es eine geheime und eine öffentliche Botschaft gab, wird in verschiedenen Texten thematisiert. Das Thomasevangelium sagt: Das sind die geheimen Worte Jesu, und es ist auch nachvollziehbar, warum sie geheim waren. Denn sie waren im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich. Wenn der Jesus des Thomasevangeliums sich selbst als das göttliche Licht bezeichnet, reichte dies nach der jüdischen Religiosität aus, ihn wegen Gotteslästerung hinzurichten. Dies wird übrigens auch im Johannesevangelium explizit hervorgehoben: Unmittelbar nach der Aussage des johanneischen Jesus, dass er mit Gott wesenseins sei, sollen der Erzählung zufolge die jüdischen Mitmenschen Jesu versucht haben, ihn zu steinigen (Joh 10,30-31). Das noch Anstößigere aber ist, dass Jesus nicht nur sagt: Ich bin das Licht, sondern dass er sagt: Dieses Licht ist in allen von euch. Das Göttliche ist in jedem Lebewesen.
Die Aussage: Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken, ist leicht zu verstehen. Der Mensch kann erkennen, dass er im Moment seines Todes gar nicht stirbt, sondern den materiellen Körper verlässt. Platonisch gesagt, verlässt der unsterbliche Teil der Seele den Körper. Es ist genau das, was wir bei den Nahtoderfahrungen sehen.
G.F.:
Könnte man den Hinweis auf die „geheimen Worte“ und das Betonen, dass man unsterblich wird, wenn man sie versteht, auch noch anders deuten? Bei den geheimen Worten könnte es sich doch um Mitteilungen aus dem Innersten handeln, die man in ihrer eigentlichen Tiefe und Bedeutung gar nicht aussprechen kann, Worte, die in das Geheimnisvolle, das Geheime des eigenen Innersten hineinführen und daraus hervorkommen. Wenn es dann heißt: … der wird den Tod nicht schmecken, dann könnte das bedeuten, dass der Mensch durch die Annäherung an das, was das Tiefste seines Innern ist, verwandelt wird. Die Worte werden aus der Sphäre des Unsterblichen heraus gesprochen und sie wollen das Bewusstsein veranlassen, sich dem zuzuwenden und sich von ihm ergreifen zu lassen.
E.E.P.:
Ja, ganz sicher. Ich würde hier noch einen Begriff aus der platonischen Tradition dazunehmen, und zwar die Erinnerung. Nach Platon ist die Seele eigentlich allwissend und hat ihr Wissen nur jetzt und hier in diesem Leben vergessen. Je mehr sie sich aber ihrer göttlichen Heimat annähert, umso schneller kann sie sich erinnern. Und das ist wohl auch das Phänomen, das bei Jesus ausgelöst worden ist. Man kann sich fragen, wie es eigentlich dazu kam, dass Jesus etwa im Alter von 30 Jahren begann, als Heiler und Missionar tätig zu werden. Ich glaube, er muss irgendetwas erfahren haben, was ihm dieses Selbstbewusstsein vermittelt hat, durch das er sagen konnte: Ich bin das Licht. Meines Erachtens war es die Wüstenerfahrung. Denn danach beginnt er mit seiner missionarischen Tätigkeit. Er konnte sich an den Zustand der Vollkommenheit seiner Seele erinnern und verkündete auf dieser Grundlage seine Botschaft. Jesus hat nie etwas aufgeschrieben. Es wurde nur über ihn geschrieben, und das ist teilweise vergleichbar, teilweise unterschiedlich, teilweise gegensätzlich. Über die gegensätzlichen Deutungen der Gestalt und Botschaft Jesu können wir bis in die Gegenwart hinein diskutieren. Das tue ich hauptberuflich mit großer Freude. Es sind wertvolle Stimmen damals verloren gegangen, die wir heute neu bedenken müssen.
G.F.:
Könnte es sein, dass sich bei Jesus etwas vollendet hat, was bei Platon schon aufleuchtete? Platon sprach ja von dem inneren Menschen, dem Seelenaspekt, der vollkommen ist.
E.E.P.:
Das sehe ich genauso.
G.F.:
Ist das Thomasevangelium vielleicht eine Einweihungsschrift? Jesus formuliert gleich zu Beginn die Schritte, die zum Unsterblichen führen und will den Hörer/Leser gleichsam dorthin mitnehmen. Er sagt: Zuerst musst du suchen, dann kannst du finden. Wenn du gefunden hast, wirst du erstaunt sein, oder, in anderer Übersetzung: erschüttert sein. Und wenn du erschüttert oder erstaunt bist, dann wirst du herrschen und wirst die Ruhe finden, in einer anderer Texttradition: dann wirst du über das All herrschen. Das sind doch tiefe Schritte einer Seele, die sich auf dem Weg der Erinnerung befindet.
E.E.P.:
Genau. Wenn man das heute neu diskutiert, haben wir die Möglichkeit, auf die mystische Tradition des frühen Christentums ganz neu zuzugehen, und wir können schauen, in welcher Weise das neue Formen der Deutung der Botschaft Jesu ermöglicht. Daraus können sich neue Ansätze christlicher Religiosität ergeben.
G.F.:
Und jetzt gibt es noch ein Zweites: Es geht nicht nur um das Verstehen, sondern auch um das Schauen. Gleich am Anfang im fünften Ausspruch spricht Jesus vom Augenöffnen für das Unsterbliche: Erkenne, was vor deinem Angesicht ist und das, was vor dir verborgen ist, wird sich dir offenbaren. Das könnte doch bedeuten, das Innerste schenkt die Kraft, ja die Erinnerung, dass es geschaut werden kann.
E.E.P.:
Logion 5 sagt: Erkenne das, was vor dir ist. Was sehen wir konkret vor uns? Es ist die materielle Umwelt. Auf sie bezieht sich unsere Wahrnehmung. Wenn man das Äußere im wahrsten Sinne des Wortes durchschaut, also über die Materie hinausblickt, gelangt man in die geistige Dimension, und die ist ja in diesem Werk so wichtig.
G.F.:
Es heißt dann später: Das Königreich des Vaters ist über die ganze Welt ausgebreitet und die Menschen sehen es nicht. Platon sagt: Schau erst mal die Dinge im Äußeren an und untersuche ihre Merkmale. Dann kannst du als nächstes den Schritt zur geistigen Wahrnehmung tun.
E.E.P.:
Zur Erläuterung für den Leser: Bei Platon ist es so, dass wir unterscheiden müssen zwischen den Abbildern und den Urbildern. Im Höhlengleichnis erklärt er, dass wir wie auf einer hinteren Höhlenwand nur die Schattenbilder der Realität sehen und dass wir diese Schattenbilder für die Realität halten. Aber eigentlich sind es nur Projektionen von Dingen, die sich außerhalb der Höhle befinden. Dort sind sie mehrdimensional und gleichsam „farbig“, während wir sie nur schattenhaft und gleichsam zweidimensional wahrnehmen können. Das gilt bei Platon für die gesamte Welt, in der wir leben.
G.F.
Man kann sich und die Welt aber nur dann als Schatten wahrnehmen, wenn man schon geistige Augen hat.
E.E.P. :
Das wäre die nächste Unterscheidung. In der platonischen Tradition wird zwischen jungen, mittleren und älteren Seelen unterschieden. Je nach dem, wie weit eine Seele sich entwickelt hat, ist sie fähig, das zu verstehen und zu begreifen.
G.F.:
Kann man schon durch Nahtoderfahrungen die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind?
E.E.P. :‘
Nein, das ist nur ein Ansatz. Wer eine Nahtoderfahrung macht, ist ganz überrascht, was er da wahrnimmt. Oft haben Menschen nach diesen Erfahrungen Probleme, ihre Erfahrungen zu verstehen und richtig in ihr Leben einzuordnen. Mit einem platonischen Weltbild werden die Nahtoderfahrungen begreifbarer. Man kann sie leichter einordnen. Für meine seelsorgerische Arbeit ist dies ein wichtiges Arbeitselement. Ich biete Denkansätze an.
G.F.:
Die Menschen begreifen dann, dass die Seele weiterlebt. Aber jetzt kommt der große Unterschied. Im Thomasevangelium steht, was eigentlich stattfinden muss, damit das himmlische Wesen der Seele entsteht, die Gestalt, mit der sie das Königreich der Himmel betreten kann. Und diese Gestalt entsteht nicht dadurch, dass man den stofflichen Körper ablegt. Im 22. Logion sagt Jesus: Der himmlische Körper (in seiner unsichtbaren, ganz feinen Struktur) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zweiheit, in der wir jetzt leben, zur Einheit wird, das Innere wie das Äußere wird, das Obere wie das Untere, das Männliche wie das Weibliche. Der geistig-seelische Körper besitzt neue Augen, neue Hände, neue Füße, und wir werden in diesem himmlischen Körper zu einem neuen Bild. Jetzt sind wir auch schon eine Art Abbild eines Urbildes, aber dann sind wir Ebenbild.
E.E.P.:
Das ist ein zentrales Motiv im Thomasevangelium. Jesuswort Nr. 108 spricht von der Gleichwerdung mit Jesus. Es ist eine christliche Adaption eines platonischen Weltbildes. Hiernach hat jede Seele das Ziel, mit Gott möglichst gleich zu werden. In der platonisch-christlichen Tradition wird daraus die Gleichwerdung mit Jesus. Jeder Mensch kann mit Jesus wesenseins werden, so das Thomasevangelium.
G.F. :
Aber das muss erst mal stattfinden.
E.E.P. :
Das ist ein langer Prozess. Meister Eckhart ist in dieser Tradition wichtig. Er hat definitiv das Thomasevangelium nicht kennen können, weil es zu diesem Zeitpunkt schon lange verschollen war. Ein guter Freund aus der philosophischen Tradition, der leider viel zu früh verstorben ist und der einen Lehrstuhl in Heidelberg hatte (Jens Halfwassen), sagte, als ich einen Vortrag über das Thomasevangelium gehalten habe: Das ist eindeutig das Evangelium von Meister Eckhart.
G.F. :
Der Seelenfunke, von dem Meister Eckhart sprach, ist das Unsterbliche in der Seele. Es ist auch der innere Gott von Ibn Arabi, dem Sufi-Meister. Er wird der größte der Sufi-Meister genannt. Und das ist das Spannende, dass diese Tiefgänge sich auf derselben Ebene quer durch alle Religionen hindurchbewegen.
Wie aber entsteht der himmlische Körper? Jesus spricht im Thomasevangelium Sätze, die auf eine Seelenwanderung hindeuten. Man muss und kann es nicht in einer Inkarnation schaffen. Mit Hilfe der Inkarnationen findet Seelenwachstum statt.
Das wurde durch Lessing erneut in die abendländische Tradition eingeführt.
E.E.P. :
Lessing war einer der ersten, der versucht hat, die Seelenwanderungsvorstellung wieder in Europa zu etablieren. Es ist vollkommen unstrittig, dass wir eine hochreflektierte Seelenwanderungslehre in Alt-Europa hatten, und zwar vor allem in den verschiedenen platonischen Schulen. Und da gibt es Analogien mit den Nahtoderfahrungen. Ich kenne viele Menschen, die als Folge einer Nahtoderfahrung sagen: Ich habe nicht nur erkannt, dass meine Seele nach dem Tod des Körpers weiterlebt, sondern dass sie auch schon vor meinem jetzigen Dasein gelebt hat. Sie fangen plötzlich von selbst an, platonische Bilder zu benutzen, um ihre eigene Situation zu reflektieren. Der Gedanke der Seelenwanderung als Seelenwachstum ist da ganz stark vorhanden.
G.F. :
Wenn man in das Tibetische Totenbuch schaut, dann steht da, dass man, wenn man stirbt, in eine direkte Berührung mit dem Urlicht kommt. Wenn man reif genug ist, dieses Urlicht aufzunehmen, dann verlässt man den Kreislauf der Inkarnationen. Aber normalerweise gehen die Seelen nicht in diese Richtung. Das Licht ist zu hell und sie wenden sich ab. Hölderlin schreibt darüber auch in seinem Epos Brot und Wein. Man benötigt also Seelenwachstum und die damit einhergehende Läuterung. Wie steht das aber im Einklang mit der Erlösungstat des Christus?
E.E.P.:
Meine Aufgabe als Religionshistoriker ist es, erst mal zu zeigen, dass es ganz verschiedene Verständnisarten gab, was die Erlösungstat gewesen sein soll, also auch ganz unterschiedliche Deutungen des Todes Jesu. Es gibt die hochreflektierte Deutung als Sühnetod für die Sünde der Welt und der Menschen. Das Thomasevangelium kennt diese Vorstellung nicht und sagt stattdessen, dass die Erlösung vermittelt wird durch die Erkenntnis, Teil des göttlichen Urgrundes zu sein. Es geht darum, jene göttlichen Urgrund zu entfalten, und zwar in der Gleichwerdung mit Jesus (EvThom 108).
G.F.: Für diejenigen, die ausschließlich an das historische Geschehen glauben, ist es eine ziemliche Herausforderung, wenn nun die Inkarnationen ins Spiel kommen. Denn der Glaube, der als das Wesentliche angesehen wird, bedeutet noch nicht unbedingt Seelenwachstum.
Er garantiert noch nicht, dass man bereit und fähig ist, in das Urlicht einzutreten.
Im Thomasevangelium sagt Jesus: Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe. Die Seele muss sich läutern, um im Feuer des Königreichs der Himmel leben zu können.
Wenn man nun – neben der historischen Betrachtung – den Weg Jesu im Johannesevangelium als einen inneren Prozess ansieht, werden die Heilungen und die Aussprüche „Ich bin“ zum Ausdruck einer inneren Verwandlung. Der himmlische unsichtbare Körper entsteht und entwickelt sich. Und der Glaube daran wird zu einem inneren Erwachensvorgang. Dann nähern sich die Inhalte des Johannesevangeliums und des Thomasevangeliums einander an.
E.E.P. :
Mir ist es ganz wichtig zu sagen: Nicht entweder Johannes oder Thomas, sondern beide zusammen sollten ins Gespräch gebracht werden. Das hat für Theologie und Kirche eine hohe Bedeutung. An der Universität Kiel bin ich ein möglichst neutraler Religionshistoriker, aber in meiner kirchlichen ehrenamtlichen Arbeit bin ich ganz konkret daran interessiert, die theologischen Elemente seelisch zu verankern.
Ich arbeite mit der Hospizbewegung zusammen. Viele Hospizmitarbeiter, aber auch Menschen, die einen geliebten Angehörigen beim Sterben begleiten, nehmen wahr, dass die Sterbenden sogenannte Sterbebettvisionen haben. Es sind Wahrnehmungen, die den sterbenden Menschen verändern. Sie beschreiben, dass Angehörige, die bereits verstorben sind, kommen, um sie abzuholen. Der begleitende Mensch, zum Beispiel der Familienangehörige, sieht das nicht, aber er kann erkennen, dass der Sterbende so etwas wahrnimmt.
G.F.:
Und da wird die Fähigkeit der Seele gefordert zu unterscheiden, ob es schon das Königreich der Himmel ist, in dem sich die Verwandten des Sterbenden befinden, oder ob es noch vorbereitende Sphären sind, in denen Läuterungen stattfinden und die zu einer weiteren Inkarnation führen, weil in der Seele noch viele Erdenreste sind.
E.E.P.:
Einer der Unterschiede der Nahtoderfahrungen zu biblischen Erwartungen ist der, dass man nicht in ein Endgericht gelangt, sondern dass das Leben, das man geführt hat, in einer Art Lebensfilm wahrgenommen wird. Es findet keine Verurteilung statt, sondern eine Selbstbewertung der Seele. Das kann ganz lebenspraktisch werden. Fast immer ist das Hauptkriterium, ob meine Handlungen geprägt waren von Liebe, Güte, Gerechtigkeit und derartigen Tugenden. Es geht also nicht darum, wie viel Geld ich verdient habe oder wie berühmt ich geworden bin, sondern es geht um ein tugendhaftes Leben. Wenn ich mein Leben so ausrichte, dass ich zum Wachstum von Liebe beitragen kann, bin ich auf einem guten Weg.
Ich weiß dann jeden einzelnen Tag zu würdigen und zu nutzen.
Wenn ich in meiner Arbeit als Wissenschaftler und in meiner ehrenamtlichen Arbeit in der Kirche meine Mitmenschen dazu ermutigen kann, sich bewusst mit dem Phänomen Tod und mit Phänomenen in Todesnähe auseinanderzusetzen, so ist das für mich eine Form der gelebten Nächstenliebe. Man kann Menschen Trost und Hoffnung geben im Angesicht der Vergänglichkeit und des Todes. Und man kann sich bewusst auf die letzte große Reise dieses Leben vorbereiten, also auf den Tod.
G.F. :
Gibt es ein Fremdsein in der Welt?
E.E.P. :
Nach einer Nahtoderfahrung sagen sich viele, dass sie sich selbst in ihrem Leben fremd geworden waren. Und das ist wiederum vergleichbar mit dem Höhlengleichnis. Wenn man durch eine Nahtoderfahrung erkannt hat, dass man gleichsam in der Höhle ist und eigentlich die Heimat ganz woanders ist, nämlich außerhalb der Höhle, dann muss man sich wieder ganz neu mit dieser Höhle anfreunden. Auf andere Weise als zuvor wird man zu der Welt „ja“ sagen können. Man ist Fremdling, aber es kommt darauf an, das Leben im Hier und Jetzt vollkommen anzunehmen.
G.F.:
Ganz herzlichen Dank, Herr Popkes, für dieses Interview.
zu den YouTube interviews:
Interview mit Professor Popkes von der Universität Kiel
Interview mit Prof. Dr. Popkes über das Thomasevangelium Teil 2
Prof. Dr. Popkes im Interview über das Thomasevangelium, Platon und die Nahtoderfahrungen Teil 3