Vor seiner Staffelei verweilend, wartet er auf eine mögliche Intuition. Er schließt die Augen und lässt das letzte Wochenende Revue passieren.
Die Eröffnung seiner neuen Ausstellung ist ein großer Erfolg gewesen. Die letzten drei Jahre hat er sich der Porträt-Malerei gewidmet. Es hat sich herumgesprochen, dass er die Gabe besitzt, das Wesentliche eines Menschen zu erfassen und ausdrucksstark darzustellen. Am Wochenende ist ihm ein neuer Durchbruch gelungen. Seine Modelle haben ihre Porträts zur Verfügung gestellt und waren auch zur Vernissage geladen. Es gab tiefgründige Gespräche zwischen den beeindruckten Besuchern in großartiger Atmosphäre. Auch ein Selbstporträt hing von ihm in der Galerie.
Am Abend vor der Eröffnung war er durch die Galerie geschritten und hatte lange vor seinem Selbstbildnis verharrt. Dabei war ihm aufgefallen, dass alle Gemälde ein miteinander wahrnehmbares Echo verbreiten und eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Selbstbildnis haben. Je genauer er sich an die einzelnen Sitzungen erinnern konnte, desto mehr ähnelte das Gemälde des Models seinem Selbstbildnis.
Seine Augen sind geschlossen. Ein Antlitz nimmt in ihm Gestalt an, jünger, ebenmäßiger, lichter als sein Gesicht. Es nimmt ihn in sich auf, ergreift Besitz von ihm. Er ist Es. Und er blickt auf sich, wie er da im Atelier steht… und zugleich sieht er etwas von seinem Leben, wie das Bild einer Landschaft.
Er steht an der Staffelei, den Kopf gesenkt. So schnell es gekommen ist, so schnell ist es vorbeigegangen. Was war das?
Er war es eindeutig, der da schaute, und doch – ein Anderer, entrückt, aus weitem Raum heraus blickend. Die Ruhe, in der er sich befand, die unbeschreibliche Stille, das Licht…. Spuren hinterlassend. War da auch ein Anflug von Trauer, eine Erwartung an ihn, der an der Staffelei steht?
Er öffnet die Augen und beginnt zu skizzieren.
Das fertige Bild hängt jetzt in der Galerie neben dem Selbstbildnis. Besucher kommen. Sie können kaum den Blick davon wenden. „Wer ist das?“ fragen sie.
„Was ist mit ihm geschehen, er sieht aus wie sein Zwilling.“
„Was für ein Geheimnis geht von diesem Porträt aus?“