Die Wissenschaft folgt in ihrer Entwicklung zwei großen Strömungen. Beide haben ihre Wurzeln in der Blütezeit der griechischen Philosophie, in der die großen Philosophen gleichzeitig auch Forscher waren.
Es kristallisierten sich schon zu der Zeit zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen heraus. Die eine war phänomenologisch und hatte als Grundlage die Beobachtung und Empfindung. Einer der großen Vertreter war Aristoteles, der die Wissenschaft bis heute in der Medizin und Biologie mit ihrer Systematisierung von Form und Funktion mit geprägt hat. Daneben entwickelte sich mit Vertretern wie Platon und Pythagoras die mathematisch-abstrakte Betrachtung von Forschungsinhalten. Sie hat ihren Ursprung in Wahrnehmungen und Anschauungen geistiger Art. Platon schrieb kurz vor seinem Tod den Dialog Timaios. Darin stellte er dar, dass die Welt aufgrund von Zahl, Ratio und Geometrie erschaffen wurde. Der schöpferische Gott wirkt in seiner ordnenden Aktivität gleichsam als Geometer und Mathematiker. Damit tritt für denjenigen, der diesem Wirken folgt, das Wechselspiel von Experiment und mathematischer Beschreibung in den Vordergrund. Für eine theoretische Annahme muss ein Experiment gefunden werden, das die mathematische Formulierung beweist. Ein modernes Beispiel sind die Quantenphysik und die Relativitätstheorie, die auf diese Weise entstanden sind.
Die Mathematik in der Forschung
Die Mathematik ist eine sehr treue Begleiterin der Wissenschaft und hat ihr viele Erfolge beschert. Im Wechselspiel zwischen Mathematik und Experiment hat sich die Technik entwickelt, die heute das moderne Leben bestimmt. Wir erfahren allerdings, dass diese technischen Errungenschaften nicht nur Segen sind, sondern auch zerstörerische Elemente enthalten, die zunehmend das Gleichgewicht unseres Planeten und damit unsere Existenzgrundlage bedrohen können. Die wissenschaftlichen Theorien, die dieser Untersuchungsmethode folgen, müssen nicht unbedingt auf einer bewussten Erkenntnis der geistigen Wirklichkeit beruhen, die hinter den Erscheinungen steht. Die Theorie im heutigen wissenschaftlichen Sinne, etwas als Folge von Wahrnehmung und Versuch in ein System begründeter Aussagen zu fassen, hat sich aus dem sakralen Ursprung des griechischen Wortes theoros oder theoria entwickelt, was so viel wie geistige Anschauung oder Erkenntnis heißt.
Die Mathematik erlaubt in ihrer Anwendung eine Abstraktion, die sich von der bewussten geistigen Erkenntnis des Menschen unabhängig macht. Die mathematische Abstraktion und die daraus entstandene Technik haben gezeigt, wie gut mathematische Berechnungen Anwendungen beschreiben können, die das Leben revolutioniert haben, aber bei mangelndem Bewusstsein, diese Errungenschaften harmonisch in die Umwelt zu integrieren, unseren Lebensraum zerstören können.
In der klassischen Physik war es das Universalgenie Newton, der sich in vielen Bereichen mit der mathematischen Beschreibung von Naturkräften und Naturerscheinungen beschäftigte. Er entwickelte mathematische Beschreibungen der Hebelgesetze, Schwerkraft und der Trägheit der Masse, die in der Folge zur Motorisierung und Industrialisierung führten. Ein weiterer Quantensprung in der mathematischen Beschreibung der Natur war die neue Mathematik der Quantenphysik, durch die sich die digitale Revolution entwickelte. Das Herz dieser technischen Entwicklungen war immer die Mathematik. Man kann vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Mathematik zumindest für die letzten Jahrhunderte, besonders für die Physik und das sich daraus entwickelnde neue Weltbild, als das Herz der Wissenschaft bezeichnen.
Wahrnehmung und Anschauung
Die zweite Form der Naturbeobachtung, die auf Aristoteles zurückgeht, bildet die Grundlage für die systematische Beschreibung der Natur, wie sie Alexander von Humboldt, Goethe und viele andere Naturforscher betrieben. Sie war ähnlich erfolgreich wie die mathematischen Beschreibungen. Diese phänomenologische Form der Wissenschaft war für Goethe eine Möglichkeit, nach den grundlegenden Strukturen zu fragen, in denen die Natur Formen aufbaut. Schiller bemerkte einmal voller Erstaunen, dass Goethe in der Lage sei, so die Idee einer Pflanze zu sehen.
Goethe sah in der mathematischen Abstraktion die Gefahr, dass sich Erkenntnis und Bewusstsein voneinander trennen. Ein gutes Beispiel sind die aus der Quantenphysik entwickelten digitalen Errungenschaften, die das Leben auf der einen Seite bereichern, aber bei falscher Anwendung zum Fluch für die Menschheit werden können.
Die phänomenologische Form der Wissenschaft, die Betrachtung von Form und Funktion, führt ebenfalls zur Abstraktion, allerdings ist diese viel enger an die Beobachtung geknüpft. Sie war für Goethe lebensnäher und damit weniger gefährlich als die vom Phänomen vollkommen losgelöste Form der mathematischen Abstraktion. Der Physiker Werner Heisenberg hat sich in einem Aufsatz über Goethe damit auseinandergesetzt. Diese Gefahr, dass die Mathematik, unabhängig vom Bewusstsein benutzt, sehr gefährlich werden kann, ist schließlich in der Atomphysik und dem Abwurf der ersten Atombombe sichtbar geworden.
Das polare Herz der Wissenschaft
Führen wir diese beiden Forschungsansätze zusammen und stellen sie als eine „heilige Polarität“ nebeneinander, dann muss also auch das Herz der Wissenschaft polar sein. Diese Polarität ist mit der aristotelisch-phänomenologischen auf der einen Seite und der pythagoreisch-platonisch-mathematischen Form auf der anderen Seite bereits sehr früh in der westlichen Kulturgeschichte angelegt. Betrachtet man die Auseinandersetzung genauer, die Goethe sein Leben lang mit der Theorie der Newtonschen Optik führte, dann ging es ihm nicht darum, Newtons Beobachtungen zu widerlegen, sondern die eigenen Untersuchungen, die mit der gleichen Sorgfalt gemacht wurden, als genau so wahr neben die Newtons zu stellen. Es ging Goethe nicht um ein richtig oder falsch der einen oder anderen Theorie. Er betrachtete die scheinbaren Widersprüche als komplementäre Wahrheiten der einen Natur des Lichtes. Die Alchemisten, Rosenkreuzer und Hermetiker verlegen das spezielle Bewusstsein für diese Erkenntnismöglichkeit in das Herz. Im Herzen gibt es eine Bewusstseinsebene, eine Bewusstseinsmöglichkeit, die polar, aber harmonisch für die Entwicklung der Welt zusammenarbeitet.
Der Systemstreit, den Goethe mit den Newtonschen Erkenntnissen sein Leben lang ausfocht, sollte die Erkenntnisse Newtons nicht widerlegen, sondern erweitern. Goethe konnte mit seinen Forschungen zur Natur des Lichtes zeigen, dass es zu jedem newtonschen Spektrum ein polares Gegenstück geben muss. Der Wissenschaftsphilosoph Prof. Dr. Olaf Müller hat sich in seinem Buch Mehr Licht intensiv mit beiden Sichtweisen auseinandergesetzt.
Newton dunkelte einen Raum ab und bohrte in den Fensterladen ein kleines Loch. In den Lichtstrahl setzte er ein Prisma und konnte so zeigen, dass das weiße Sonnenlicht aus farbigen Lichtstrahlen zusammengesetzt ist. Goethe füllte ein prismenförmiges Glas mit Wasser und stellte es am helllichten Tage draußen auf. An der Stelle, an der Newton den Lichtstrahl ins Prisma lenkte, klebte er ein Stück Papier, so dass ein Schatten entstand. So erzeugte er ein Farbspektrum, das die Komplementärfarben des Newtonschen Spektrums zeigte. Er konnte das Papierstück auch in der gleichen Entfernung zum Prisma platzieren, wie das Loch im Fensterladen bei Newton, ohne eine Veränderung des Spektrums zu bewirken. So stellt sich die Frage, ob dieser Schatten die gleiche Natur hat wie die Lichtstrahlung. Denn es war diesmal der Schatten, durch den das Farbspektrum entstand.
Ist Dunkelheit eine Strahlung?
In der heutigen Wissenschaft ist Dunkelheit die Abwesenheit von Lichtstrahlung. Newton hat darum die Dunkelkammer, die er für seine Experimente benutzte, als neutralen Raum vorausgesetzt. Niemand hat das jemals in Frage gestellt, auch Goethe nicht. Wenn man aber die Umkehrung des Versuchsaufbaus konsequent zu Ende denkt, dann ist jetzt der helle Raum die neutrale Umgebung und der Schatten, das „Dunkle“, wird durch das Prisma geschickt. Man könnte jetzt das „Dunkle“ als Strahlung betrachten.
Dem Dunklen wird damit etwas Aktives, ja Eigenständiges zugeordnet. Goethe beschreibt in seiner Farbenlehre, wie sich die Farben verändern, indem in der Natur Licht und Dunkel in Beziehung zueinander treten. Ausgangspunkt für seine Versuche mit dem Prisma waren seine Entdeckungen der Farben, die einen Gegenstand umgeben, wenn man durch die Kante eines Prismas schaut. Dabei fiel ihm auf, dass die Farben aus dem bläulich-kalten Bereich eher an dunklen Flächen zu beobachten waren und die des rötlich-warmen Bereichs helle Flächen umgaben. Goethe wusste, dass man diese Entdeckung nur begreifen konnte, wenn man sie selber durch ein Prisma erlebt. Deshalb plante er, bei seiner Veröffentlichung der Farbenlehre jedem Verkaufsexemplar ein Prisma beizulegen, damit die Leser seine Gedanken direkt selber nachvollziehen konnten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der mangelnden Produktionskapazität von Prismen zu der Zeit. Und so blieben seine Kernaussagen weitgehend unverstanden.
Wäre das Universum nicht dunkel, sondern hell, so würden wir die Dunkelheit als Strahlung erkennen. Eine ihrer Eigenschaften müsste dann statt Wärme, wie beim Licht, der Transport von Kälte sein. Das heutige Wissenschaftsparadigma lässt diese Gedankenexperimente allerdings nicht zu.
Durch die Entdeckungen der Quantenphysik wissen wir allerdings, wie entscheidend für den Ausgang des Experiments die Intention und der Versuchsaufbau sind. Sehr überraschend ist eine Besonderheit, die es hier zu erwähnen gilt.
Der „Dunkelstrahl“, den Goethe bei seiner Versuchsanordnung erzeugte, hat die Eigenschaft, das Magenta als echte Spektralfarbe erscheinen zu lassen. Goethe soll immer nach seiner Lieblingsfarbe, dem Purpur, gesucht haben. Genau diese Farbe entstand durch seinen Versuchsaufbau im Zentrum seines Spektrums. Reine Spektralfarben sind solche, die sich durch ein Prisma nicht weiter zerlegen lassen. Nach dem Versuchsaufbau Newtons ist Purpur, oder, wir würden heute sagen, Magenta, eine Mischfarbe aus rot und blau, also keine reine Spektralfarbe. Legt man Goethes Versuchsaufbau zugrunde und schickt das so erzeugte magentafarbene Licht noch einmal durch ein Prisma, dann lässt es sich nicht weiter zerlegen, ist unter diesen Umständen also eine echte Spektralfarbe. Diese Widersprüche warten noch auf eine Erklärung.
Aber worum es hier eigentlich geht, ist die Frage, ob wir uns bewusst aus dem herrschenden Wissenschaftsparadigma lösen können, um die polaren Gegensätze zu den heutigen physikalischen Erkenntnissen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Die Frage, die damit im Raum steht, ist, ob es zu der Wissenschaft des Lichts, wie sie Newton in der Dunkelkammer ausführte, eine komplementäre Wissenschaft der Dunkelheit gibt, die im Licht ausgeführt wird. Zwei isomorphe Wissenschaften, die sich komplementär ausschließen und ergänzen. Das heutige Wissenschaftsparadigma, das mit jeder Erkenntnis andere, gegensätzliche Erkenntnisse ausschließt, lässt diese Betrachtungsweise nicht zu.
Aber Paradigmen unterliegen dem Wandel. Heisenberg hat in einem Aufsatz über die Wirklichkeit festgestellt, dass sich die Forschung und die Erkenntnis radikal verändern können, wenn sich die Wirklichkeit verändert, wobei nicht klar ist, ob das veränderte Paradigma die anderen Forschungsergebnisse zulässt oder ob die Forschungsergebnisse das Paradigma verändern. Vielleicht gilt beides. Newton war zum einen moderner Naturwissenschaftler und zum anderen war er Alchimist. Er war einer jener Wissenschaftler, die das Zeitalter einer neuen materialistischen Wissenschaft mit begründeten. Er war Alchemist und Wissenschaftler und ging als moderner Naturwissenschaftler in die Geschichte ein.
Pymander, das dritte Informationsfeld
Warum bringen wir das alles in einem Magazin, das sich in dieser Ausgabe mit dem Herzen beschäftigt? Oder, was hat die Geschichte der rationalen Wissenschaft mit dem Herzen zu tun?
Wir möchten an dieser Stelle kurz das Thema Alchemie als Vorgängerin der heutigen modernen Wissenschaft beleuchten. Als großer Vater der Alchemie gilt Hermes Trismegistos. Über ihn weiß man wenig, er geistert in Form unzähliger hermetischer Schriften, die unter anderem das Corpus Hermeticum bilden, durch die Zeiten, deren Autorenschaft sich nicht eindeutig auf ihn zurückführen lässt. Eine sehr zentrale Schrift im Corpus Hermeticum spricht von einem „Pymander“, einem Bewusstseinsbrennpunkt, der den Menschen augenblicklich aus einem herrschenden Paradigma herauszuheben kann, um ihn die bisherige Lebensszenerie von Anfang bis Ende aus der Vogelperspektive betrachten zu lassen. Einstein hat festgestellt, dass man ein Problem immer nur von einer Bewusstseinsebene aus lösen kann, die oberhalb der Ebene liegt, auf der das Problem entsteht. „Pymander“ scheint also derjenige zu sein, der den Menschen auf die übergeordnete Bewusstseinsebene heben kann. Sein Bezugspunkt im Menschen ist das Herz.
Das universelle Informationsfeld, das „Pymander“ als Brennpunkt mit dem Herzen jedes Menschen verbinden kann, ist so etwas wie ein inneres Weltbild, eine innere Realität, die der Wissenschaftler für die Interpretation seiner Forschung heranziehen kann, oder die der Künstler für die Realisierung der Kunst und der Philosoph zur Entwicklung neuer Sichtweisen nutzen kann. In einer lebendigen heiligen Polarität zwischen dem Herzen des Menschen und „Pymander“ entsteht also ein drittes Informationsfeld, aus dem eine Wissenschaft des Herzens möglich wird.
Vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“
Olaf Müller hat in seinem Buch Mehr Licht versucht, den historischen Streit zwischen Newton und Goethe aus einer übergeordneten Sicht als sich ergänzende Sichtweisen zu betrachten. Er beschreibt die Problematik eines dualistischen Weltbildes, das sich über 2500 Jahre entwickelt hat und ganz offensichtlich nicht in der Lage ist, die phänomenologische Herangehensweise mit der mathematisch-abstrakten zu versöhnen. In der Wissenschaft des Herzens gibt es eine dritte Bewusstseinsstruktur, eine geistige Wahrnehmungsmöglichkeit, die erkennen lässt, dass weder das eine noch das andere die letzte Wahrheit ist. Von dieser übergeordneten Ebene aus lassen sich die Polaritäten durch komplementäre Sichtweisen versöhnen.
Olaf Müller (2015), Mehr Licht, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main