Die Liebe ist der Anfang und das Ende der Gesetze. Der Geist des Universums kann alle Gesetze aushebeln. Und wir? Auch wir können lieben.
Ich stehe wie das berühmte Kamel vor dem Nadelöhr.
Universelle Gesetze ? Das ist zu viel für meinen kleinen Kamelverstand. Wie sollte ich erkennen, was universell, absolut und unverrückbar gültig ist?
Trotzdem, denke ich nicht schon seit über fünf Jahrzehnten regelmäßig über die Gesetzmäßigkeiten des Lebens nach? Was macht man als kleines Mädchen, wenn die zwei noch kleineren Brüder sich prügeln? Warum sind die Menschen nicht friedlich wie die Blumen auf dem Felde? Welchen sinnvollen Beruf könnte ich ausüben? Dann geht es weiter von der optimalen Garzeit von Nudeln bis zur Frage des Ursprungs von Gut und Böse. Wie lebt man gesund, motiviert und ökologisch? Leider hat mich meine Schulbildung nur mäßig dabei unterstützt, was ich – auch leider- erst Jahrzehnte später verstanden habe. Dazu kommt, dass ich meine schwer errungenen Einsichten nur mit zweifelhaftem Erfolg meinen Kindern weitergeben konnte. Sie kamen aus meiner Zukunft. Deshalb habe ich umso mehr von ihnen gelernt. Alles ist so ungewiss, und je mehr ich lerne, desto ungewisser erscheinen mir die Dinge. Alles fließt. Alles ist in Bewegung. Bei diesen Worten hört plötzlich das Wiederkäuen – wie das die Kamele so tun – auf. Bewegung ist schön. Fließen ist schön. Unsicherheit ist schön. Vielfalt ist schön. Flexibilität ist Leben. Ein solches Gesetz gefällt mir, ein bewegliches, ein sanftes, ein liebendes, inklusives, integrierendes, großzügiges, leichtes.
Die Schriftgelehrten fragten Jesus nach dem höchsten Gebot. Er sagte ihnen: „Dies ist das höchste Gebot: Liebe Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Und dieses zweite ist dem ersten gleich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Ein Gebot nehme ich als Angebot, das offen ist, da ist nichts Gesetztes.
Die Liebe ist der Anfang und das Ende der Gesetze. So können die Gesetze von Ursache und Wirkung, der Kausalität, des Karmas ausgehebelt werden, ebenso die Gesetze der Resonanz, der Polarität, der schwachen und starken Anziehung, der Schwerkraft. Der Geist des Universums kann alle Gesetze aushebeln. Jesus sagt uns, dass wir das auch können, denn wir können lieben. Jetzt kann ich wieder atmen. Es besteht Hoffnung.
Gesetzmäßigkeiten
Dennoch beschäftige ich mich mit den Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Denn was ich auch tun will oder soll, es ist mit Kenntnis und Beherrschung von Gesetzmäßigkeiten verbunden. Ich will viele von ihnen kennen und damit in der Welt wirken, verschiedene Sprachen sprechen und mit Menschen kommunizieren, einen Garten anlegen, musizieren, gesund kochen, die irdischen und himmlischen Verkehrsregeln beachten und sowohl mein blechernes als auch mein energetisches Fahrzeug, der mein „siebenfacher Körper“ ist, nicht zuschanden fahren.
Das himmlische, universelle Gesetz ist die Liebe. Auf dieser Basis versuche ich, die natürlichen, sozialen, metaphysischen Gesetze zu erleben und erfahre dieses:
Die Welt ist ein Berg, und alles,
Was man je von ihr zurückbekommt,
Ist der Widerhall der eigenen Stimme.
Rumi
Hypothesen und Fragen
So tauchen in der Begrenztheit meines Kamelverstandes einige Hypothesen und Fragen auf:
– Weltgesetze existieren nur in Bezug auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein des Wahrnehmenden, seine Position im Universum, die zur Verfügung stehenden Instrumente.
– Wir und die intelligentesten Wissenschaftler sind bis heute nicht fähig, die grundlegendsten Weltgesetze zu erklären oder zu reproduzieren.
– Was wir über universelle Gesetze sagen, gründet auf Hypothesen, philosophischen Betrachtungen, Konzepten oder subjektiven Erfahrungen.
– Wir kennen den Rahmen und die Grundbedingung aller Gesetzmäßigkeiten und Gesetze nicht.
– Gesetzmäßigkeiten und Gesetze helfen mir, mich im Leben und mit den Menschen zurechtzufinden.
– Warum drängt es uns, von universellen Gesetzen zu sprechen ? Warum begnügen wir uns nicht mit Weltgesetzen, Naturgesetzen, moralischen Gesetzen ?
– Wenn Gott oder die Wirklichkeit unendlich ist, gibt es dann überhaupt einen Rahmen?
– Wie frei fühle ich mich, auf einer Skala von 0 – 100?
Die menschlichen Aktivitäten des Entdeckens, Formulierens und Widerlegens von Gesetzmäßigkeiten und Gesetzen sind wie ein Sport, mittels dessen unser Intellekt und unser Bewusstsein sich aus der irdischen Wirklichkeit bis in universelle Dimensionen emporzuhangeln versuchen. Gelingt dieser Versuch?
Emporhangeln
Falls wir am Ergebnis zweifeln sollten, ist es dennoch gewiss, dass wir dabei einiges erleben.
- Wettbewerb: Wie nahe komme ich meinem Himmel in der kurzen Zeit eines Lebens? Wettbewerb schafft Gewinner und Verlierer, Fortschritt und Spaltung. Wir erreichen immer neue Ebenen von Bewusstsein, Freiheit, Verantwortung, Schöpferkraft und Liebe. Wer die höchsten Gesetzmäßigkeiten erkennt und zu versuchen erfüllt, wer die Schwerkraft seines Ego und die Zeit zu überwinden trachtet, kann den Himmel erreichen. Ist das so?
- Sicherheit und Fürsorge: Wie bei anderen Säugetieren sind unsere ersten Errungenschaften ein eigenes Revier und ein Clan, den wir ernähren und beschützen. Unser Fokus auf das, was wir haben, verlangsamt die Vitalität unseres Systems – und das Seelenfeuer erstickt.
- Macht: Das Beherrschen immer neuer Fähigkeiten führt zu Kreativität, Bewusstsein, Freundschaft und Liebe, aber auch zu Selbstsucht, Angst und Kampf. Das Recht des Stärkeren wird uns scheinbare Macht und Sicherheit geben. Aber geht das denn, solange noch ein Funken wahrer Liebe in unserem Herzen lebt? Kann ich wagen, alles „zu verkaufen“ und Jesus nachzufolgen?
- Hybris: Da in unserer westlichen Kultur narzisstisches Verhalten anerkannt und geehrt wird, sind auch spirituelle Sucher versucht, ihre egozentrischen Gewohnheiten als normal zu betrachten. Auch die kleinste Überbetonung des „vertikalen Strebens“ kann dazu führen, dass wir die sozialen Aspekte vernachlässigen. Wir erleben uns als einzigartige Individualität. Wo Menschen sich früher durch Nationalität, Blutsbande oder soziale Strukturen verbunden fühlten, trennt sich heute jedes Ich von jedem Du. Niemand außer mir selbst kann den Weg verwirklichen, der mir aufgegeben ist. Die Schwelle des zugespitzten Individualismus können wir heute, im Tiefpunkt der Stofflichkeit, nicht vermeiden. Denn nur dort, wo ich das Anderssein des anderen Menschen erkenne und anerkenne, kann ich es bewusst lieben. So kann durch die Egozentrik hindurch die wahre Liebe, die tiefste Liebe, geboren werden.
- Kontrollwahn ist ein weiterer Ausdruck von Machtstreben und Angst. Kontrolle kann unsicheres Streben einigermaßen stabil erhalten. Das Leben hängt jedoch an für uns unkontrollierbaren universellen Gesetzen, und von diesen Ebenen erfolgt irgendwann eine Nachkontrolle. Solange wir das universelle Gesetz der Liebe nicht erfüllen können, helfen uns die Natur- und Weltgesetze. Sie erscheinen als Schicksal oder Wunder, Zufall oder Hüterinnen der Schwellen. Kontrollwahn verwandelt die Leitplanken der Gesetzmäßigkeiten in Gefängnisse.
- Gütestreben: Im Prinzip wollen wir alles aus der ursprünglichen Liebe und Güte unseres Herzens heraus vollbringen. Daraus entstehen Pflichtgefühl, Loyalität, Perfektionismus, Disziplin, Gerechtigkeitsstreben, Wissensdurst, Motivation, Hilfsbereitschaft, Religion, Fanatismus, Dogmatismus. Was aber, wenn unsere Loyalität irrtümlicherweise „dem Kaiser dieser Welt“ gehört, ihm hörig ist?
- Scheitern: Unser Emporhangeln, unser vertikales Streben nach himmlischen Verhältnissen, nach Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit, zerschellt immer wieder an uns noch unbekannten Gesetzmäßigkeiten. So kann man in den Biographien der intelligentesten Menschen, wie zum Beispiel der einflussreichen Physiker Albert Einstein oder Werner Heisenberg, sehen, wie sie nach solchen Erfahrungen vom unkennbar Göttlichen sprechen. „Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott!“ (Werner Heisenberg)
Das Kamel passt nicht durchs Nadelöhr.
Der Reiche kommt nicht in den Himmel.
Das Angebot der Liebe aber können wir annehmen. Wir können lernen, ihre großzügig gestreuten Hinweise zu lesen. In der Geistesschule des Rosenkreuzes werden dazu sieben Schlüssel erwähnt, die wir alle in uns tragen. Es steht uns frei, sie anzuwenden. Die folgenden Formulierungen stimmen vielleicht nicht mit den althergebrachten überein. Sie sollen eine Einladung sein, die Schlüssel in sich selbst, im eigenen Erleben, immer wieder zu finden.
Sieben Schlüssel
- Glaube: Mein Glaube kann die zu einem Prozent wissenschaftlich erwiesene Welterkenntnis zu meiner gesetzten, überschaubaren, individuellen Scheinwirklichkeit machen. Der Glaube, der Berge versetzt, liegt aber, einzigartig und nur mir selbst zugänglich, in meinem Herzen und tritt dort in Kraft, wo es keine Beweise mehr gibt.
- Integration ist die stufenweise Umsetzung der Liebe auf meiner Reise durch die 99% Prozent der unbekannten, „dunklen Materie“. Integration begegnet allem mit Offenheit, Staunen, Geduld und Annehmen der Unsicherheiten. So verschwinden Selbstbehauptung, Autoritätsgläubigkeit, Kontrollwahn und Angst. Konfliktfähigkeit, Streitlosigkeit, Mut, Kommunikation und Liebe sind die Folgeerscheinungen.
- Eindeutige Ausrichtung: Wenn mein Lebenspendel ganz oben ans Licht angebunden ist, kann ich unbesorgt nach links und rechts schwingen und mich den Widersprüchen und Gegensätzen des Lebens und der Menschen zuwenden, ohne mich darin zu verheddern.
- Harmonie im Wechsel der Aktivitäten: Mein Kamelverstand kann nicht alles auf einmal erkennen. Deshalb muss ich mich nacheinander mit den Dingen befassen, mich auf Prozesse einlassen. Ich kann auch in die Rollen, die das Leben mir bietet, hineingehen, sie so gut wie möglich erfüllen und wieder loslassen. Solve et coagula, der alchimische Grundsatz bedeutet: löse und verbinde. Ich bin mit dem Leben in seinen Schattierungen verbunden, handle und lasse wieder los.
- Dienstbarkeit: Wer „lösen und verbinden“ kann, durchdringt die Illusion der Trennung. Alles ist verbunden durch die Unendlichkeit, Polarität, Resonanz, Ursache und Wirkung. Das Handeln wird frei von Rollenzwängen, die uns zu Herrschern, Opfern oder Rettern machen. Das Gewissen befreit sich aus der Fixierung auf Schuld. Als Folgeerscheinung wird das Handeln dem Ganzen dienlich.
- Magisches Handeln: Durch die ersten fünf Stufen hat sich die Seele mit dem Licht verbunden und ihre Egozentrik verloren. Sie lebt aus der Wirklichkeit. Durch ihre Handlungen strömt die Macht des Universums. Sie verwandelt den Kamelverstand, das Leben in der Wüste und schafft Oasen.
- Achtsamkeit: Durch die Erfahrungen des Emporhangelns und das Anwenden der Schlüssel ist die Seele still geworden. Sie nimmt wahr, wie beweglich die Dinge der Welt, ihre Umrisse, Konzepte und Gesetzmäßigkeiten sind, wie Symbole, wie Musik. Meine Achtsamkeit ist offen für das, was ist. Alles ist in Bewegung, Teil eines Prozesses. Ich bin selbst zu einem Prozess geworden und sehe die Prozesse des Lebens von Liebe durchströmt und erleuchtet. Ich lebe wie ein Neutrino, selbst unsichtbar und offen für die Kraft, die Energie, die Wärme und die Klänge des Lebens, bin Musik und Tanz geworden in der Harmonie der Sphären. Das ist das Ende der Gesetze. Auch wenn mein Kamelverstand das nicht ganz fassen kann.