Die Mythen, Erzählungen und Bilder über die Gesichter des Göttlichen in Indien können, ja sollten jedoch als Hinweise verstanden werden, dass hinter diesen Aussagen eine Kraft steht und wirkt, die nicht „von dieser Welt ist“, eine Kraft, die wir in uns tragen und der wir unser weltliches Ichbewusstsein in Demut, Glauben und Vertrauen übergeben können. Wir tragen in uns den Schlüssel, ja wir besitzen die Teilhabe an BRAHMAN, an Nirvana oder dem „Reich, das nicht von dieser Welt“ ist.
Brahman
Das Pantheon der Hindugottheiten ist unermesslich, wie es in einer der heiligen Schriften steht: „unzählbar wie die Sandkörner am Ganges-Fluss“. Und doch steht hinter, über oder in dieser Vielheit ein Ausgangspunkt, ein Prinzip, das alle Begrenztheiten von Form, Zeit, Raum und Darstellungen auflöst. Es wird als BRAHMAN bezeichnet, als
… das ABSOLUTE, das ALLUMFASSENDE, das UNIVERSELLE. Es ist das alles durchdringende, göttliche, namenlose, formlose, ewig absolute, allem innewohnende Prinzip. BRAHMAN ist das zentrale göttliche Prinzip des Vedanta. BRAHMAN hat keine materielle Qualität, ES ist kein Konzept dieser Welt und kann daher auch nicht mit Worten oder Bildern beschrieben werden. BRAHMAN ist das SELBST, das wahre ICH eines jeden Organismus und die höchste nicht-duale Wirklichkeit.[1]
Dieser (BRAHMAN) ist mein Atman im inneren Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Gerstenkorn oder Hirsekorn oder eines Hirsekornes Kern. Dieser ist mein Atman im inneren Herzen, größer als die Erde, größer als der Himmel, größer als die Welten. […] Der Allwirkende, Allwünschende, Allriechende, Allschmeckende, dies Alles in sich Fassende, Wortlose, Achtlose, dieser ist meine Seele im inneren Herzen, dieser ist das BRAHMAN, zu dem werde ich, von hier abscheidend, eingehen. Wem solches ward, fürwahr, für den gibt es keinen Zweifel.[2]
Aus des „Hirsekornes Kern“ entsteht, entspringt das ganze sichtbare und unsichtbare Universum, in dem sich Götter, Dämonen, Sonnensysteme, Galaxien, aber auch Menschen, Tiere, Pflanzen und Minerale durch Energien, Schwingungen und Verdichtungen manifestieren. Die Erschaffung des Universums führt zu einer scheinbaren Trennung zwischen BRAHMAN und seiner Kreatur, doch diese Trennung ist nur scheinbar, da alles von BRAHMAN durchdrungen wird und in Einheit mit Ihm existiert oder auch nicht existiert. Die Schöpfung des Universums, sein Blühen und seine Auflösung werden im Hinduismus als „Tage BRAHMANs“, Kalpas (Perioden von unvorstellbar langen Zeitaltern) angesehen.
Viele Versuche, den Prozess der Erschaffung des Universums zu beschreiben, hat die Menschheit unternommen. Viele, wenn nicht alle Kulturen, haben versucht, Antworten auf diesen Prozess des Entstehens aus dem Absoluten, Allumfassenden, dem unbegrenzten Nichtsein in die für uns mit unseren Sinnesorganen wahrnehmbare Welt zu geben und zu beschreiben. Hieraus entstanden unzählige Schriften, Bilder, Statuen, Gebete, Philosophien, die alle versuchen, das Unfassbare fassbar, das Unkennbare kennbar, das Nichthörbare hörbar zu machen. Auf diesem Weg sind Götter, Gottheiten, Engel und Heilige mit zahllosen Formen und Attributen entstanden, Bilder, Bildnisse dessen, was nicht dargestellt werden kann. Sie alle sind beschränkte Versuche, vom unaussprechlichen Mysterium Gottes in der Sinneswelt zu zeugen. Sind diese Bilder, Statuen, Tempel und Texte „Gesichter Gottes“? Können diese Bilder die Menschheit auf das Mysterium BRAHMANs hinweisen und sie in ihrem inneren Suchen und Fragen zu Antworten bringen?
Anhand von ausgewählten Darstellungen der drei Hauptgötter des Hinduismus: Brahma, Vishnu und Shiva, will ich versuchen, aufzuzeigen, wie die Bildnisse dieser drei uns auf dem Weg zum Suchen des BRAHMAN in uns leiten können.
Trimurti („die drei Gestalten“): Brahma, Vishnu und Shiva
Brahma
Über das Entstehen und Nichtentstehen des Universums aus und durch das Absolute, BRAHMAN, gibt es viele Mythen und Erzählungen, die alle eine Gemeinsamkeit haben: die Manifestation der drei Hauptgötter Brahma, Vishnu und Shiva, eine Dreieinheit, die wiederum viele, ja unzählige weitere Gottheiten hervorbrachte, oft mit einem direkten Bezug zum menschlichen Leben, zu seinen Wünschen, Ängsten und Bedürfnissen. Brahma wird die Erschaffung der Welten und des Universums zugeschrieben. Vishnu wird als der Erhalter und Shiva als der Zerstörer der Unwissenheit und der Erneuerer gesehen. Jeder der drei Gottheiten sind symbolische Attribute zugeordnet, eine weibliche Manifestation sowie „Reittiere“, Symbole und mystische Handhaltungen (Mudras).
Über die Entstehung von Brahma heißt es: Brahma ist der Erstgeborene im Universum. Um die Welt und die menschliche Rasse zu schaffen, teilte sich Brahma in zwei Hälften: in das männliche Prinzip Brahma und das weibliche Prinzip, die Göttin Gayatri[3] die sich wiederum in vielen unterschiedlichen Manifestationen ausdrückt.
Im heute gelebten Hinduismus ist Brahma jedoch kaum sichtbar. Es gibt in Indien nur sehr wenige Tempel, in denen ausschließlich er verehrt wird. Das Entstehen des Universums, sein Blühen und Vergehen werden als das Ein- und Ausatmen Brahmas angesehen. Die unvorstellbar langen Zeiträume dieses Ein- und Ausatmens sind abgehoben vom täglichen Leben und Wirken der Menschen und Götter. Brahma wird vielfach als alter, weiser Mann mit vier Köpfen dargestellt, womit angedeutet wird, dass er in alle vier Himmelsrichtungen schaut und so allgegenwärtig ist. Es ist auch eine Andeutung, dass er die vier Grundtexte des Hinduismus, die vier Vedas, ausstrahlt, um sie der Menschheit im Bewusstsein zu halten.
Die bekannteste und auch weit verbreitete weibliche Manifestation Brahmas ist Sarasvati, die Göttin des Wissens und Lernens, sowie der Kunst und Fruchtbarkeit. Zu Sarasvati beten Schüler und Studenten, Künstler und Gelehrte. Sarasvati will uns den Weg zur Weisheit zeigen, einer Weisheit, die zur Überwindung der Getrenntheit und zur Vereinigung des individualisierten Atman mit BRAHMAN führt.
Vishnu und Shiva
Für die Menschen sichtbarer und greifbarer sind die beiden anderen Gottheiten der Dreieinheit: Vishnu, der Erhalter und Shiva, der Zerstörer und Erneuerer der Welt. Sie sind praktisch allgegenwärtig. Unzählige Tempel, Schreine, heilige Bäume, Wasserläufe, Berge etc. sind Vishnu oder Shiva in der einen oder anderen Inkarnation geweiht. Für alle Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen gibt es Bilder, Statuen und Tempel, die die eine oder andere Gottheit darstellen. Sie werden angebetet, ihnen wird geopfert, und es wird von ihnen die Erfüllung der eigenen Wünsche erwartet. Die meisten dieser Wünsche sind auf das tägliche Leben und seine Probleme gerichtet, obwohl alle heiligen Schriften Indiens immer auf das Transzendente, auf die Überwindung der Bindungen an diese Welt und das Aufgehen in BRAHMAN hinweisen.
[1] https://wiki.yoga-vidya.de/Brahman
[2]Chandogya-Upanishad (3.14)
[3] https://vedicgoddess.weebly.com/bhakti-masala-blog/brahma-the-creator-the-consort-of-saraswati