Barfuß der Sonne entgegen

Barfuß der Sonne entgegen

Wer sucht, der findet.

…nachdem die Welt den Rausch aus ihrem giftigen betäubenden Becher ausgeschlafen hat und früh am Morgen der aufgehenden Sonne mit geöffnetem Herzen, entblößtem Haupt und barfuß, fröhlich und jubelnd entgegen gehen kann[1].

Dieser Jubelruf in der Rosenkreuzerschrift Confessio Fraternitatis (1615) ist Ausdruck des völligen Überwindens der Fremdlingschaft in einer von Fremdheit, Hass und Eifersucht geprägten Welt. Wie kommt es zu dieser Aussage?

Die heutige Welt

Werfen wir einen Blick auf unsere Welt:

In zunehmendem Maße beutet der Mensch die Erde und ihre Atmosphäre aus, Katastrophen, Unwetter und Verluste der Lebensgrundlagen sind die Folge. Warum scheinen wir unfähig zu sein, unser Verhalten grundlegend zu ändern? Hat sich die Menschheit aus einem mit giftigen betäubenden Substanzen gefüllten Becher in einen Rausch versetzt, aus dem sie nur schwer wieder aufwachen kann? Ist der Mensch ein Fremdkörper auf dieser Erde, einer, der Schaden anrichtet, solange er sich selbst nicht gefunden hat?

Diese Fragen haben in der Vergangenheit und auch heute noch Generationen von Philosophen, Politikern und Einzelnen beschäftigt, und sie erfordern von Tag zu Tag dringender eine Antwort.  Religionsstifter und Weise haben Wege gewiesen, Erklärungen gefunden und propagiert. Neue Theorien versuchen, eine Antwort zu geben. Streit und Kriege um die „richtige Antwort“ zeugen in der Weltgeschichte vom Problem des Menschseins hier auf der Erde, ohne dass eine einvernehmliche Lösung gefunden wurde. Ist es vielleicht notwendig, dass jeder einzelne die Lösung in sich selbst findet? Ich möchte versuchen darzustellen, wie ich mit dem „Fremdsein“ in meinem Leben auf verschiedenen Kontinenten umgegangen bin und umgehe.

Während meiner Jugend, Ausbildung und Studium in Deutschland spürte ich ein Fremdsein bereits im Leben in meiner Familie und mit meinen Freunden. Es verstärkte sich während Aufenthalten im Ausland. In den 60er Jahren wurde ich mit den noch immer präsenten Traumata des Dritten Reichs, als Teil einer Kollektivschuld des Deutsch-Seins, konfrontiert. Dies war verständlich und ich konnte es nachvollziehen, wobei sich immer stärker die Frage nach dem „Warum?“ in meinem Bewusstsein erhob: warum die Verführungen ganzer Volksschichten durch demagogische Machthaber, warum die Kriege; warum die Ungleichheit in der Welt; warum die Unterdrückung der Kulturen und der Bevölkerung der sogenannten Dritten Welt? Auf diese Fragen gaben mir die Diskurse in der Gesellschaft und auch die Lehren der Kirche, in deren Glauben ich erzogen wurde, keine zufriedenstellende Antwort. Auch meine Beschäftigung mit Theosophie und Anthropologie befriedigte mein inneres Suchen und Fragen nicht.

Das Suchen im Osten

So führte mich mein Weg zu den östlichen Philosophien und Religionen. Doch auch hier blieb die Frage: Wie kommt es, dass so hohe und weise Philosophien, vor allem in Indien und China, nicht in der Lage waren, Elend, Hungersnöte und Unterdrückung (z.B. durch das Kastenwesen) zu überwinden? Weshalb sind diese gesellschaftlichen Mechanismen in Vergangenheit und Gegenwart so stark dominant und bestimmend? Das Studium der Bhagavadgita, das Praktizieren von Yoga und Meditation, das Studium des Buddhismus etc. folgten und weckten in mir das Bedürfnis, die Realität Indiens direkt kennenzulernen und zu erleben, nicht als Tourist oder Hippie, sondern mit dem Einsatz meiner erlangten beruflichen Kenntnisse und Möglichkeiten dem Wunsch, einen Beitrag zur Linderung von Not zu leisten und dem Verlangen, Selbsterkenntnis und Antworten auf meine inneren Fragen zu finden.

Ich bekam die Möglichkeit in Nepal zu arbeiten und zu leben. Ein tiefes Eintauchen in die Kultur, Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Sprache halfen mir, mein äußerliches „Fremdsein“ in diesem Umfeld abzubauen. Jedoch auf die Grundfragen des Fremdseins in dieser Welt konnte ich lange keine Antwort bekommen. Was die äußeren Lebensumstände anbelangte, fühlte ich mich immer weniger „fremd“, sondern „anders“. Eine Antwort auf mein tief inneres Fragen fand ich erst nach weiterem langem Suchen. Einem Suchen, das sich ins Innere verlagerte.

Ich konnte in dieser Zeit das Zusammenbrechen der veräußerlichten Normen und des Verhaltens und der Religiosität beobachten. Jahrhundertealte Traditionen wurden durch die „Entwicklung“ in Frage gestellt, abgelehnt und das Suchen nach etwas Neuem wurde spürbar. Gesellschaftliche Konflikte, Auseinanderbrechen von Familien und sozialen Strukturen folgten und sind immer noch im Gang. Als Gegenbewegung klammern sich viele an Überkommenes. Doch sie stehen vor der Frage, ob es nicht Formalität und Schein sind, dem sie folgen und der innere, spirituelle Gehalt immer weniger wird. Dies deckt sich mit Krishnas Aussagen in seinem Gespräch mit Arjuna, das bereits vor einigen tausend Jahren geführt wurde und von dem die Bhagavadgitagita berichtet:

Die Unweisen hängen an den Veden wegen der Früchte von darin mitgeteilten Zeremonien und sagen: „Weiter gibt es nichts“. Sie kennen nichts anderes als eine Menge von Ritualen, welche Reichtümer… und eine glückliche Wiederverkörperung verschaffen. Aber diese…haben keine sichere Erkenntnis über die Seele und sind am wenigsten zur Meditation geneigt. … Sei du frei von dem Paar der Gegensätze… frei von weltlicher Ängstlichkeit und dem Verlangen nach Bewahrung gegenwärtigen Besitzes[2].

Ist diese Äußerung Krishnas nicht identisch mit der Forderung der Bibel?

…und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Synagogen und an den Ecken auf den Gassen, auf dass sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhöret, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet[3].

Der Austausch mit nepalesischen, indischen, europäischen und amerikanischen Freunden führte zu einer Intensivierung meines spirituellen Suchens. In dieser Zeit bekam ich Zugang zu den Meditationsutras des Mahayana Buddhismus, in denen insbesondere das Herzsutra[4] und das „Sutra des sechsten Patriarchen“[5] eine starke spirituelle Anziehungskraft erzeugten. Eine Kraft, die über die normalen Pujas und Tempelrituale hinausgeht.

Zurück nach Europa

Zudem ergab sich ein Kontakt mit der Philosophie, Lebensweise und den Idealen der südfranzösischen Katharer und den Rosenkreuzermanifesten des frühen 17. Jahrhunderts[6].  Sie lenkten mein Interesse wieder nach Europa. Das Studium dieser Manifeste und weiterer Schriften über den Rosenkreuzerimpuls wurde für mich eine bleibende Richtschnur für den weiteren Lebensweges. Die Konfrontation mit den äußeren Lebensumständen in Nepal, in Deutschland und anderen Ländern, in denen ich lebte, wurde vor dem Hintergrund des spirituellen Weges, zweitrangig. Das tagtägliche „Fremdsein“ in sozialer, kultureller, politischer und anderer Hinsicht verlor seine Bedeutung. Die Ausrichtung auf die in der Fama Fraternitatis, der Confessio Fraternitatis sowie der Alchymischen Hochzeit des Christian Rosenkreuz[7] beschriebenen Prozesse der Seelenverwandlung führten immer stärker zu einem Erkennen, das „nicht von dieser Welt“ ist. Die zunehmende Verbundenheit mit dem „Anderen“ in mir, dem aus der Tiefe heraus wirkenden schöpferischen Urgrund, verdrängte das weltliche Fremdsein. An seine Stelle traten innere Ruhe und Stille, ein „Heimkommen“.

Inneres Wissen wurde zu einer starken Freude und zum Impuls, noch suchenden Menschen beizustehen. Das langsam wachsende Wissen führte zu einer stärker werdenden Heiterkeit[8] und Freude. Das Gefühl des Fremdseins hat mir die Tür zum Heimweg geöffnet. Und das jahrzehntelange Suchen hat es mir ermöglicht, einer aus dem Innersten aufbrechenden Sonne „mit offenem Herzen und entblößtem Haupt“ entgegenzugehen, so wie es schon die klassischen Rosenkreuzer in ihrem Jubelruf ausdrückten.

 


[1] Jan van Rijckenborgh: Das Bekenntnis der Rosenkreuzer Bruderschaft, Band 2, Rozekruis Pers, Haarlem, 1971, S. 18

[2] Bhagavadgita Kapital II, Verse 42/43

[3] Matthäus 6; 5-8

[4] www.logon.media: Das Herz-Sutra oder: Erfüllung ist etwas anderes; 2. Juli 2023

[5] www.logon.media: Die Lehre vom Die Lehre vom Universalbewusstsein des sechsten Patriarchen Hui-neng; Geist und Seele, 2. Juli 2022

[6] J. van Rijckenborgh: Das Bekenntnis der Rosenkreuzer Bruderschaft, Band 1 – 4, Rozekruis Press, Haarlem, 1971,

[7]  J. van Rijckenborgh: Das Bekenntnis der Rosenkreuzer Bruderschaft, Band 3 und 4, Rozekruis Press, Haarlem, 1971,

[8] Siehe auch: www.logon.media: LOGON print, Heft 19: Heiterkeit u.a., Handeln ohne zu handeln; 1 Juli 2024

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Datum: Juli 16, 2025
Autor: Horst Matthäus (Nepal)
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