Der Weg Indiens in die Unabhängigkeit vom britischen Empire wird meist als glanzvolles Beispiel eines gewaltfreien Prozesses gesehen. In der Tat schafften es der Indische Nationalkongress und Mohandas Karamchand Gandhi in einer Doppelstrategie von politischem Wirken und Mobilisierung der Volksmassen zu gewaltlosem Widerstand, den Rückzug der Briten zu erwirken, der Indien 1947 die Freiheit – aber auch die Teilung – brachte.
Die Briten waren nicht die einzigen Fremdherrscher der jüngeren indischen Geschichte. Vielmehr lösten sie schleichend die Herrschaft der muslimischen Moghule ab. Von 1526 bis 1858 hatte sich Indien (und zwar bereits zum zweiten Mal) unter muslimischer Herrschaft befunden. Die muslimischen Eroberer und diejenigen Inder, die zum Islam konvertierten, bildeten in diesem Reich die herrschende Klasse. Als dann ab 1601 die Britische Ostindien-Kompanie, mit Privilegien der englischen Königin ausgestattet, die Seewege für den Indienhandel groß aufzog und Handelshäuser auf dem Subkontinent gründete, begann bereits eine langsame Machtverschiebung hin zu den Briten. Nach und nach etablierten sie eine Militär- und Zivilgerichtsbarkeit, führten Krieg gegen Aufständische, zwangen Indien harte Handelsbedingungen auf und begannen auch, die vorhandene Verwaltung auszubauen und zu übernehmen. Wiederholte Aufstände der Inder führten dazu, dass Großbritannien der British East India Company 1833 ihr Handelsmonopol entzog, wodurch sie wieder zu einer reinen Handelsgesellschaft wurde. Im Jahr 1858 verlor die Kompanie ihre Verwaltungsfunktion endgültig an die britische Regierung, und Queen Victoria wurde Kaiserin von Indien.
Indien erhebt seine Stimme
In all dieser Zeit gab es immer wieder Aufstände und Unabhängigkeitsbestrebungen. Dass das Land von den Briten ausgepresst wurde, dass Textilien aus britischer Industrieproduktion die indische Textilproduktion quasi vernichteten, dass die zunehmende Armut zu großen Hungersnöten führte, bewies gleichsam die Unrechtmäßigkeit der britischen Herrschaft über Indien. Zugleich war es in der Zeit, in der Indien Kronkolonie war, ein Bestreben der Briten gewesen, genügend Inder einer guten englischen Bildung zuzuführen, damit sie in der Verwaltung eingesetzt werden konnten, weil man unmöglich alle wichtigen Posten mit Menschen aus dem Mutterland besetzen konnte. So schickten die Familien der indischen Oberklasse ihre Söhne auf gute englische Colleges, in denen sie mit den Idealen der europäischen Kultur in Berührung kamen – universellen Idealen, in deren Genuss sie selbst jedoch nicht kommen sollten, und das umso weniger, wenn sie nach ihrer Heimkehr nach Indien ihre verantwortungsvollen Tätigkeiten aufnahmen und dennoch als minderwertige Rasse behandelt wurden. So zogen sich die Briten eine Klasse von Salonrevolutionären heran, die den Indischen Nationalkongress (INC, 1885) und die Muslimliga (1906) gründeten – zunächst machtlose Debattierklubs, die anfangs nur Resolutionen erarbeiten und der kolonialen Administration vorlegen konnten; erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie als politische Parteien zugelassen und sukzessive an der Regierung des Landes beteiligt.
Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948), der von seiner Familie nach London zum Jurastudium geschickt worden war, entdeckte ebendort den Pazifismus und den Vegetarismus, las die Bhagavad Gita und beschäftigte sich mit Buddhismus, Islam und Christentum. Von ihm ist die Aussage überliefert:
Wenn Gott Söhne haben konnte, dann waren wir alle seine Söhne. Wenn Jesus gottgleich oder selbst Gott war, dann waren wir alle gottgleich und konnten selbst Gott werden. [1]
Am Ende seiner Studien war Gandhi Rechtsanwalt geworden, und das Fundament für seine Lebensauffassung des satyagraha (übersetzt in etwa: an der Wahrheit festhalten), die über die bloße Gewaltlosigkeit der ahimsa hinausgeht, war gelegt.
Auf seiner ersten Stelle als Rechtsanwalt in Südafrika konnte Gandhi erleben, wie dunkelhäutige Menschen – indische Kontraktarbeiter und die einheimische farbige Bevölkerung – immer wieder um ihre Rechte gebracht wurden, und er begann, sie vor Gericht und vor ihren „Herren“ und Arbeitgebern zu vertreten, indem er eine Philosophie der moralischen Überlegenheit erarbeitete, die an das Gewissen und die Moral der jeweiligen Gegenseite appellierte. Sein Wahrhaftigkeitsanspruch an sich selbst weitete sich im Laufe seiner Tätigkeit zu einer alles umfassenden Philosophie aus, in die sein fortgesetztes Bemühen um Reinheit des Lebens und Einfachheit der Lebensführung integriert wurde. Seine Vorgehensweise hatte Erfolg und machte ihn bekannt. Gandhis satyagraha wird gerne auch als Taktik gesehen, um den Gegner durch den Appell ans eigene Gewissen „umzudrehen“, doch Gandhis Anspruch war höher: Er suchte den gemeinsamen moralischen Grund, auf dem Einigung möglich wurde und gegenseitiger Respekt wachsen konnte.
Als Gandhi 1915 nach Indien zurückkehrte, eilte ihm sein Ruf als Bürgerrechtler und versierter Organisator voraus. Er wurde Mitglied des INC und begann bald, dessen Richtung zu lenken, auch wenn er in der Partei ab 1936 hinter Jawaharlal Nehru (1889-1964) zurücktrat, der schließlich der erste Ministerpräsident des freien Indien werden sollte. Wichtiger als die politische Arbeit in der Partei war für Gandhi, das Volk nicht nur zu mobilisieren, so dass es für seine Rechte eintrat, sondern es tatsächlich sittlich und moralisch instandzusetzen, für sich selbst Eigenständigkeit, Würde und Freiheit zu erringen. Er wusste, Indien würde nur dann die Unabhängigkeit erlangen, wenn das Bemühen vom ganzen Volk und nicht nur von einer Gruppe Salonrevolutionäre getragen wurde.
Ohne einen konkreten Plan ging er immer dahin, wohin er wegen eklatanter Missstände gerufen wurde. Sein behutsames, immer von grundsätzlichem Respekt für das geltende Recht getragenes Vorgehen erlaubte es ihm, offensichtliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückung höflich, aber klar anzuprangern. Oft hatte er hierbei Erfolg; seine Bekanntheit und sein Ruhm wuchsen, er erhielt den Beinamen Mahatma (übersetzt in etwa: große Seele).
(Fortsetzung in Teil 2)
[1] Mohandas Karamchand Gandhi: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Freiburg / München 1960