- Fake im Gehirn – und große Musik
Was ist eigentlich los auf dieser Welt?
Was geschieht mit den Werten?
Kultur steht in unserer Zeit an letzter Stelle der Wertepyramide. Musikerinnen und Musiker, die Jahre lang studiert und mit ihren Instrumenten gearbeitet haben, jeden Tag viele Stunden lang, werden in der Pandemie auf das allerletzte Abstellgleis geschoben. Doch es geht um Bildung, um die Hochkultur. Gerade unser Land rühmt sich seiner großen Musik seit Menschengedenken. Hochkultur hat nichts mit elitären Überresten der Vergangenheit zu tun. Hochkultur ist das hohe, das größte Bemühen, den Sinn der menschlichen Existenz lebendig zu halten. In einer Zeit, in der der Mensch Fakten und Fakes kaum mehr voneinander trennen kann, wird die Verwirrung gezielt provoziert. In einer säkularisierten Welt gibt es keine gültigen Wahrheiten mehr. Religionen, die den Aspekt des Wahren und Verlässlichen vermitteln konnten, haben sich durch das Verhalten ihrer Repräsentanten selbst in das Gefängnis der Absurdität gesperrt.
Was bleibt dem denkenden und strebenden Menschen? Vielleicht findet jeder für sich Anhaltspunkte, die er für wahr halten kann. Unter Umständen steht er damit allein, ohne die Zustimmung anderer.
Große Musik, die der Hochkultur zuzurechnen ist, entsteht in geistig-seelischen Räumen. Sie wird von Komponistinnen und Komponisten empfangen und der Menschheit zur Verfügung gestellt. Musikerinnen und Musiker können in diese geistig-seelischen Räume eintreten und das Wahre und Substanzielle berühren und damit arbeiten. Die Hörerinnen und Hörer vermögen sich ebenfalls in diese Freiräume zu begeben und Eindrücke zu erhalten aus dem kosmisch-geistigen Urgrund. Die Hochkultur ist vielleicht ein letzter Quell der unverfälschten Wahrheit. Lassen wir sie nicht leichtfertig untergehen.
Ein bekannter Cellist formulierte es etwa so: „Bach versteht mich!“
So weit und groß, so gut … Aber im Kleinen, im Individuellen beginnt es. Marie von Ebner-Eschenbach verfasste einst das kleine Gedicht:
Ein kleines Lied, wie geht’s nur an,
dass man so lieb es haben kann?
Was liegt darin, erzähle.
Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele.
Der Mensch singt, bewegt sich, spielt auf Instrumenten, um innere Stimmungen nach außen hin hörbar zu machen. Gefühle, Freude, Trauer, Glück, Sehnsucht teilt er mit, auch Zorn und Wut … . Sein Körper ist oder wird zum Instrument. Andere freuen sich oder leiden darunter. Der Mensch ist ein Künstler und ein Kunstwerk. Stimme, Körperhaltung, Mimik, der Energiefluss drücken das Innere aus und teilen mit, was ihn ausmacht: sein Wesen, seine Erfahrungen, seine Wünsche, seine Gedanken, sein Schicksal, das, was ihn geprägt und zu dem gemacht hat, was er ist. Menschen bestehen nicht nur aus Körper, Gefühlen und Gedanken, sie sind vor allem Seelen. Seelen, die sich nach Höherem sehnen und sich dadurch in ihren Vibrationen verfeinern. Sie finden Felder, Seelen- und Geistfelder im Kosmos, mit denen sie sich verbinden. Hier werden Impressionen empfangen, und einige Menschen besitzen ein geeignetes Instrumentarium dafür, das Geschenkte hörbar zu machen. Sie schöpfen geistig–seelische Substanz und schenken das Empfangene den Menschen dieser Welt. Dieser individuelle Schöpfungsprozess sei an nur drei großen Komponisten in jeweils sehr unterschiedlichen Ausprägungen dargestellt.
- Rote Rosen aus Athen
Am 2. September 2021 stirbt Mikis Theodorakis in Athen im Alter von 96 Jahren. Die Legende erzählt: Als Kind auf einer kretischen Insel berichtet Mikis seinem Vater aufgeregt: „Ich habe Musik gehört von einem gewissen Ludwig van Beethoven.“ Der Vater antwortet: „Es gibt nur einen Ludwig van Beethoven.“ Mikis: „Nein, es gibt nun zwei; ich werde Komponist!“ Und er wird Komponist! Er wird auch Emigrant, Widerstandskämpfer, Politiker, Autor, Dichter, politisch Verfolgter, Gefangener.
Mikis Theodorakis kämpft gegen Faschismus, die deutschen Nazis, die Diktatur Griechenlands, gegen die Obristen. Immer wieder wird er verhaftet, verbringt Teile seines Lebens in Gefängnissen und politischen Zuchthäusern auf der Gefangeneninsel Makronissos vor der Küste jenseits des Tempels von Kap Sunion. Er wird geschlagen, gefoltert, ja auch lebendig begraben. Ein Folterknecht zieht ihn an den Haaren aus dem Dreck und schreit ihn an: „Widerrufe endlich, unterschreibe, sonst schlagen wir dich tot.“ Er: „Ich kann nicht, weil ich ein Kreter bin.“ Seine Musik ist jahrelang verboten, seine Lieder dürfen in Griechenland nicht gesungen werden. Mikis Theodorakis komponiert an gegen jeden Widerstand und gegen seine eigene innere Zerrüttung. Dmitri Schostakowitsch und Leonard Bernstein setzen sich international für ihn ein, damit er ins Exil nach Paris gehen und überleben kann.
Chorwerke, Sinfonien, Opern, Filmmusik, Kammermusik und Lieder über Lieder, auch ein Requiem und eine Liturgie für die Kinder, die im Krieg umgebracht wurden, hinterlässt er der Welt. Griechische Literatur verbindet er mit seinen Kompositionen und erschafft einen großartigen klassischen Kosmos. Hochkultur für jedermann, und die Griechen nehmen seine Musik als die ihre an. Es geschieht so etwas wie eine kulturelle Wiedergeburt und die Griechen lieben ihn maßlos. Die Bouzouki, das Nationalinstrument Griechenlands mit seinem typischen klagenden Klang, taucht in Theodorakis’ Musik immer wieder auf.
Nach wenigen Jahren in Paris treibt ihn das Heimweh wieder zurück nach Griechenland. Zehntausende feiern Mikis Theodorakis’ Rückkehr und singen unter Tränen seine Lieder.
Der Sirtaki ist kein alter griechischer Tanz. Nein, Mikis Theodorakis erfindet ihn für seine Filmmusik Alexis Sorbas. Eine Musik, die Griechenland repräsentiert wie kaum eine andere. Seine Lieder werden griechische Volkslieder. Sie sind heute noch in aller Munde. Mit seiner Musik ist eine neue griechische Seele entstanden. Sein Lebenskampf für Bildung, für die Kultur und die Aussöhnung mit der Türkei sowie gegen jede diktatorische Tyrannei und gegen Drogenkonsum hat sich gelohnt. Ein Gedichtband von Mikis Theodorakis hat den Titel: In den paradiesischen Gärten meines Schädels.
Nach seinem Tod ehrt ihn Griechenland mit einer dreitägigen Staatstrauer.