Der Wunsch nach Erkenntnis hat viele Gesichter. Da ist unsere physische (Um-) Welt, die fundamentale unbeantwortete Fragen aufwirft, trotz der Alltagsrealität, die die Dinge bekannt und beherrschbar aussehen lässt. Unser eigener Körper ist uns bei genauerer Betrachtung viel weniger bekannt und bewusst, als wir normalerweise meinen. Im Innen und im Außen begegnen uns die gleichen Fragen nach Essenz und Sinn; wir könnten auch sagen: Der Mikrokosmos ist uns genauso wenig bekannt wie der Makrokosmos. Seit der Mensch seine intuitive Erkenntnis verlor, die ihn mit allen Dingen und Wesen verband und die ihn in der Welt verortete, ist er zum Forscher geworden.
Suchen und Forschen
Wer die Natur der Materie zu erforschen beginnt, der findet, dass das, was er für stofflich halten möchte, sich in den Tiefen des Subatomaren scheinbar aufzulösen beginnt – ins Feinstoffliche, in unbekannte Zusatzdimensionen? Die Physik hat noch keine allgemein anerkannte Antwort darauf. Ähnlich verhält es sich, wenn man in die Weiten des Weltalls schaut. Das All dehnt sich seit ca. 14 Milliarden Jahren gleichmäßig in alle Richtungen aus. Dabei verläuft diese Ausdehnung so schnell, dass wir bestimmte entlegene Gegenden des Universums nie zu Gesicht bekommen werden, da sie sich mit Überlichtgeschwindigkeit von uns entfernen. Da sich nach der Speziellen Relativitätstheorie nichts[1] schneller als das Licht bewegen darf, behelfen sich die Physiker hier mit der Grundannahme, dass diese Geschwindigkeit sich auf den Raum selbst bezieht, der sich ausdehnt. Bei solchen Gedanken könnte man sich verloren vorkommen und sich spontan wünschen, das All wäre kleiner und direkter wahrnehmbar. Paradoxerweise ist die Unerforschlichkeit seiner Tiefen genauso unangenehm wie die Annahme, dass eines Tages das Universum so bekannt und kartiert sein könnte wie heute unser „globales Dorf“. Unser Denken gerät hier an eine besondere Grenze: Es ist der Horizont, den wir immer weiter verschieben wollen, die Reise, die niemals enden soll. Für dieses Denken ist beides unbefriedigend: seine eigene Begrenztheit ebenso wie der Gedanke, dass in einem begrenzten physikalischen All eines Tages nichts mehr zu erforschen übrig bleiben könnte. Hier tut sich eine grundsätzliche Frage auf: Ob nicht hinter unserem rastlosen Drängen nach immer weiterer Erkenntnis ein Impuls aus einer Sphäre wirkt, in der es eine bewusste und ewige Entwicklung in Verbundenheit gibt.
Unser Forschen erstreckt sich auf alle Ebenen des Seins
Hinter dem Stofflichen liegen die feinstofflichen Sphären von Wille (Äther, die prima materia unseres Kosmos), Gefühlen (Astralwelt), Gedanken (Mentalwelt). Sie gehören zu unserem menschlichen Wesen wie auch zum „Körper“ der Welt als Ganzem. Den meisten Menschen erscheinen diese Bereiche ephemer, flüchtig, nicht substanziell. Wer hellsichtig oder hellfühlig ist, kann diese Sphären deutlich wahrnehmen, wird jedoch durch die eigene Subjektivität daran gehindert, sie klar und ohne Täuschung zu sehen.
Was treibt uns an?
Wenn wir wissen wollen, was andere Menschen antreibt und wer sie wirklich sind, sind wir größtenteils auf Vermutungen angewiesen. Von uns selbst wissen wir aber genauso wenig. Denn nehmen wir wahr, wie unsere Gedanken, Gefühle und Tatabsichten zustande kommen? Nein – weil wir uns mit ihnen identifizieren. Sie sind einfach da. Es gilt nicht nur: Ich denke, also bin ich (ich). Sondern auch: Ich fühle so, deshalb reagiere ich so, anders kann es nicht sein. Wer einmal versucht hat, gegen ein starkes Gefühl anzugehen und es zum Schweigen zu bringen, weiß, dass dies beinah unmöglich ist. Es erwacht immer wieder aufs Neue. Wie Gedanken, Gefühle und Wille aber in uns entstehen, fragen sich nur die wenigsten Menschen. Man kann diese Fragen unter anderem mit dem Hinweis auf das Karma beantworten, das uns auf unserem Lebensweg mit bestimmten Menschen und Situationen zusammenbringt und das uns auch auf die Dinge so reagieren lässt, wie wir es eben tun. Hinter diesen Begegnungen stehen Lernaufgaben, denen wir nicht auf Dauer ausweichen können. Eine andere Aufgabe liegt in der Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens. Wir können ihr nicht entkommen, sondern müssen zuerst von innen heraus verstehen, wie sehr unsere Selbstbezogenheit mit dieser Enge korrespondiert.
Selbst wenn wir in Büchern Antworten finden, die uns eine umfassendere Sicht auf unser Leben oder das Weltgeschehen näherbringen, bleibt diese so lange theoretisch, bis wir uns die Erkenntnis konkret und praktisch erobern. Für diesen Feldzug braucht es keine entschlossene Ausweitung des eigenen Wissens, sondern etwas ganz anderes: Die sukzessive Rückkehr des Menschen in die Einheit mit seinem Mikrokosmos, mit dem Makrokosmos und mit seinem göttlichen Urgrund. Man könnte diese Reise ebenso beschreiben als Bewusstwerdung der Einheit mit dem eigenen wahren Wesen, dem göttlichen Lebensfeld und schließlich mit seinem Schöpfer.
Der Schleier ist die Schicht, auf die sich die Wirklichkeit projiziert
Oft möchten wir den Schleier der Subjektivität beiseite schieben, um DIE WIRKLICHKEIT zu sehen. Doch der Schleier ist zugleich auch die Schicht, auf die sich derjenige Teil der Realität projiziert, den wir jetzt sehen sollen. Was wir jetzt denken, fühlen, vor uns sehen, wie subjektiv auch immer: Es ist unsere Gegenwart. Es ist die Aufgabe, die vor uns liegt. Es ist der Schleier, der wir selbst sind und in dem die Welt uns begegnet. Diese Begegnungen können wir annehmen, was auch immer sie bringen. Wir sind ohnehin eins mit allem, was uns begegnet.[2] Denn was da ist, können wir zwar zunächst leugnen oder verdrängen, es lässt sich aber nicht auf Dauer wegschieben.
Schritte der Transformation
Wer sich dem Jetzt öffnet, stellt fest, dass sich die Dinge durch Akzeptanz wandeln. Dabei öffnen wir unser Denken, Fühlen und Wollen. Unser Sein kommt zur Stille. Unser Ich hört auf, Grenzen zu ziehen. Durch Annehmen, wirkliches Annehmen, entsteht Verstehen. Denn womit wir eins werden, das lernen wir kennen; es kann nicht anders sein. Die meisten Schritte auf diesem Weg des Einswerdens sind wahrscheinlich Herausforderungen, denn sie bringen Korrekturen, Konfrontation, Krankheit, Verlust. Wir gehen durchs Feuer der Verschiedenheit und der Konflikte. Darin entsteht eine Reinigung, aber auch eine Veränderung des Standpunkts, die einer sukzessiven Preisgabe des Ichs gleichkommt. Vielleicht wollen wir zunächst die Grenzen unseres Ichs enger ziehen, um uns abzusichern und die vermeintlichen Gegner draußen zu halten. Es wird auf diesem Weg aber immer deutlicher spürbar, dass wir zu einer Transformation aufgefordert sind, gleichsam zu einer Umwälzung im eigenen Wesen, durch die das wahre Selbst zum Vorschein kommen wird.
Der Weg der Akzeptanz ist ein Weg der Einweihung und Erleuchtung
Man muss sich buchstäblich mit Haut und Haar dem weihen, was die Wirklichkeit bereithält. Die Wirklichkeit wirken lassen. Auf die wesentlichen Ereignisse des Lebens angewendet heißt das: Das Karma wirkt nicht auf uns ein, um uns zu belohnen oder zu bestrafen: Es schenkt uns Möglichkeiten zur Bewusstwerdung. Das ist ein Einweihungsweg im täglichen Leben, der ohne religiöses Konzept gegangen werden kann. Spirituelle Lehren stellen uns hierzu Landkarten zur Verfügung. Beim Gehen erkennen wir die Landschaft wieder, entdecken aber außerdem ihre Fülle und Tiefe.
Der Gedanke, dass unser Ich nicht das ewige Selbst ist, ist ein solcher Wegweiser. Dass das wahre Selbst universell, also allumfassend ist, ist ein anderer. Dieser Gedanke kann einen Punkt in uns berühren, in dem wir uns zu diesem innereigenen Universellen öffnen können. Vertrauen kann entstehen. Dieses Vertrauen ist dann der feste Grund, auf dem wir gehen können – und das universelle Selbst nach und nach in uns entdecken und zur Wirksamkeit bringen.
Wir sind die Projektion eines universellen Selbstes
Der Tunnel unserer Subjektivität mag auch dann (und vielleicht vor allem dann) immer wieder eng und dunkel erscheinen. Doch gerade diese Enge und Dunkelheit können auch zu Antrieben werden, die Schale des Ichs preiszugeben. Wir sind selbst dieser Tunnel; wir sind die Projektion eines universellen Selbstes in ein Einzelwesen und in Raum und Zeit. In dem Menschen, der dies erkennt, findet ein paradoxer Kampf statt. Der Wunsch nach Erleuchtung und nach dem Universellen steht gegen den Wunsch, als Einzelwesen im Konkreten und Fassbaren zu verbleiben. Er steht gegen die Angst, sich im Universellen zu verlieren. Diesen Gegensatz kann man letztlich nur annehmen und im Reifungsprozess ausharren. Der Mensch der sich diesem Weg weiht, erlebt, wie er in der Akzeptanz innereigene Kenntnis erringt.
Wie im Kleinen, so im Großen
Wie verhält es sich damit in Bezug auf die großen Linien des Weltgeschehens? Der Weg zur Erkenntnis des höheren Plans der Dinge führt über die Klärung im eigenen Innern. Er führt durch die Selbsterkenntnis zur Erkenntnis der Welt. Das heißt: Meine Motive zum Handeln werden auch in allen anderen Menschen erkennbar. Jeder hat (potenziell) alles Gute und alles Böse in sich. Jeder steckt in seinem eigenen Tunnel, mit seinen eigenen Ängsten, Wünschen und Zielen. Geltungsdrang und die Suche nach Liebe und Anerkennung, das Verlangen nach Macht und Sicherheit wirken in allen Menschen – bevor sie sich auf einen spirituellen Weg begeben, und auch noch lange danach. Der Blick in die Welt ist auch immer ein Blick ins eigene Innere. Wie im eigenen Leben, so wirken auch in globalen Krisen karmische Kräfte, die die Menschheit mit ihren Lernaufgaben konfrontieren.
In die Tiefe des innereigenen Universellen tauchen
Im Großen und im Kleinen gibt es auf das Selbst bezogene Ziele, spirituelle Entwicklungen und Ausweichbewegungen. Es gibt den Weg des Ichs und den Weg zur Befreiung des universellen Selbstes. Krisen sind vor allem Wendepunkte. Wenn wir sie als solche erkennen können und die Risse in der Oberfläche dazu gebrauchen, in die Tiefe des innereigenen Universellen zu tauchen, tun wir das Wesentliche. Diese Umwendung führt in die Freiheit. Erst in dieser Freiheit entsteht ein Bewusstsein, das alles Irdische erkennt und durchdringt. So wie im Innern jedes Menschen der Kampf zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen dem Ich und dem wahren Selbst ausgefochten wird, so ringt auch die Welt in Geburtswehen eines neuen Bewusstseins und Seins, das aus dem ewigen Urgrund hervorkommt. Die meisten Menschen werden durch diese Veränderung verunsichert, viele klammern sich an abgelebte Anschauungen und einfache Wahrheiten, die es im Äußeren nicht geben kann. Wer den Weg in die Freiheit wagt, wirft mit dem „alten Selbst“ Ängste, Wünsche, Trennendes und Feindbilder ab. Langsam entsteht Klarheit. Ihren Kern wird man nie in Worte fassen können.
Wer diesen Weg annimmt, wird von der Freiheit berührt. Der Weg führt durch den Tunnel der Subjektivität und der Zeitlichkeit, und er liegt zugleich im allumfassenden Licht.
[1] zumindest nichts, was eine Ruhemasse besitzt
[2] Dieses „Einssein“ widerspricht dem Denken, das von Ich und Du, von „Innenwelt“ und „Außenwelt“ ausgeht. Das seelische Erleben ist imstande, in den Begegnungen und Ereignissen die Einheit wahrzunehmen und zu erkennen, in welcher Weise Ich und Welt transformativ miteinander verwoben sind.