Die Emergenz des Heiligen – Teil 2

LOGON (Peri Schmelzer) sprach mit Dr. Thomas Steininger, Frankfurt. - Das „Ganze“ wird zu einer sinnlichen Erfahrung. Etwas leuchtet auf, das wir als heilig bezeichnen können.

Die Emergenz des Heiligen – Teil 2

Zu Teil 1

 

L.: Persönliche Reife bedeutet auch, über sich hinauszuschauen, über das, was man ist. Es ist eine erschütternde Erfahrung, wenn man vom „Ganzen“ ergriffen wird. Das bin dann auch ich, aber in einer so umfassenden Weise, das man es nicht beschreiben kann. Und danach bin ich wieder nur bei mir. Diese Erfahrung hinterlässt Spuren, und es bildet sich eine neue Beziehung zum Ganzen. Ist das nicht auch die Erfahrung der Mystiker? Wie würdest du dieses Ganze beschreiben, diesen Raum, der sich öffnet?

T.S.: Ich würde gern vom Prozess her anfangen. Einerseits braucht es reife Persönlichkeiten; andererseits entwickelt sich das Wir-Feld durch die gemeinsame Gegenwärtigkeit und deren Wahrnehmung innerhalb eines Gesprächsflusses. Dabei entwickelt sich eine eigene Dynamik und wenn genügend Bewusstsein in einer Gesprächsgruppe da ist, entsteht eine Art Gravitationsfeld einer ko-kreativen Intelligenz. Das entsteht, emergiert aus dem Gemeinsamen heraus, und es ist mehr ist als die Summe seiner Teile.

Das „Ganze“ wird zu einer sinnlichen Erfahrung

Dabei ist das Ganze nicht nur eine Idee, sondern eine durchaus sinnlich zugängliche Erfahrung. In dem Augenblick, in dem das in einem Gesprächskreis zumindest für einen Teil der Anwesenden offensichtlich wird, entsteht ein Attraktionspunkt, der dann zum Bezugspunkt für die weitere Entwicklung des Gesprächs wird. Auch Menschen, die sonst sehr selbstbezogen sind, können sich auf dieses gemeinsame Feld beziehen, weil es ihrer Wahrnehmung zugänglich wird. Es entsteht ein sich selbst verstärkender Prozess, indem die Kreativität und die Intelligenz dieses Feldes eine synergetische Kraft entwickeln. Das heißt, dieses Feld kann Menschen mitnehmen und kann das Bewusstsein auch in dieses gemeinsame Offene heben und – und wie du das bei den Mystikern angesprochen hast – über sich selbst hinausziehen.

L.: Du sagst, das Feld entwickelt etwas Neues, und Du sprichst von einem Attraktionspunkt.

In der Bibel heißt es: „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Wenn Menschen mit gleicher innerer Ausrichtung zusammen sind, entsteht ein gemeinsames Feld – und dann kommt gleichsam „von außen“ noch etwas hinzu, das mehr als ist die Summe seiner Teile. Eine geistige Kraft, der Geist verbindet sich mit diesem Feld.

T.S.: Dem, was Du sagst, liegt eine interessante Annahme zugrunde: nämlich, dass der Geist von außen kommt.

L.: Ja, als das transzendente Ganze. Das ist möglich, weil in der Gruppe in einem bestimmten Moment eine ihm entsprechende Qualität vorhanden ist.

Etwas leuchtet auf, das wir als heilig bezeichnen können

T.S.: Meine Wahrnehmung im Dialog ist eine andere: Es zeigt sich Gegenwärtigkeit, und das ist ein geistiges Phänomen. Es kommt etwas zum Leuchten, das über das Triviale hinausgeht. In jeder echten Begegnung, wenn sie nur tief genug, intensiv genug ist, leuchtet etwas, das man mit dem Wort „heilig“ bezeichnen kann und das jedem Menschen zugänglich ist – egal, ob er Christ ist oder Agnostiker oder etwas anderes.

Es entsteht also etwas, das heilig ist – und dieses Heilige kann man in verschiedenen metaphysischen Verständnissen entdecken. Das sind in der Regel sehr spannende metaphysische Gebäude, vedantische, sufistische oder anthroposophische …

Wir sehen es von einer anderen Seite her und nehmen einfach das Phänomen als solches wahr, denn das „Heilige“ ist unabhängig von metaphysischen Gebäuden zugänglich. Wir möchten eine offene Spiritualität entwickeln, in der aber das, was sich zwischen uns zeigt, durchaus im Verständnis des Heiligen Geistes eingebettet werden kann – auch wenn es von einem iranischen Sufi oder im Vedanta anders bezeichnet würde. Trotz der verschiedenen Interpretationsformen machen wir alle die gleiche Erfahrung, wenn wir sie in ihrem Phänomen ernst nehmen und sagen: Da entsteht etwas zwischen uns, das ist eine geistige Kraft, das ist etwas, das nicht trivial ist, das wir in unterschiedlichen Sprachfeldern und auf Grund kultureller Hintergründe verschieden beschreiben, aber in dem wir uns treffen können.

Spiritualität ohne ein bestimmtes Lehrgebäude

Wie kann die spirituelle Dimension in einer offenen Gesellschaft gelebt werden, ohne auf ein bestimmtes Lehrgebäude zurückzugreifen? Eine offene Gesellschaft, die aber dennoch nicht säkular ist, in der also nicht nur das zählt, was materialistischer/wissenschaftlicher Konsens ist, sondern in der die Dimension des Spirituellen, die Dimension des Heiligen ihren Platz hat?

L.: Das gehört wohl zur Ernte der langen Kulturentwicklungen. Die Dinge, die sich in den vielen Kulturen entwickelt haben, wollen ihren gemeinsamen Nenner finden. Und dieser gemeinsame Nenner ist nichts anderes als der Mensch. Man hat das Heilige immer im Äußeren angebetet, hat es auf immer anderes projiziert, doch es ist vor allem auch im Menschen selbst. Es ist die in ihm emergierende Quelle des Lebens. In einer Gruppe von Gleichgesinnten mag es leichter sein, damit in Verbindung zu treten, zu dem kosmischen Ganzen, das sich zu uns neigt in einer Kraft, die man auch als die Christuskraft bezeichnen kann. Entscheidend ist die Beziehung zu dir selbst, zu deiner Tiefe. Im Dialog mit Menschen und allem, was dir begegnet, kannst du das Heilige im eigenen Selbst, in jedem anderen und im Leben selbst finden und mit ihm in Beziehung treten. Ich glaube, das braucht es in unserer Zeit.

Ihr praktiziert den emergent dialogue innerhalb einer bestimmten Situation. Welche Bedeutung hat er aber für das alltägliche Leben?

T.S.: Wir sind nie außerhalb des Dialogs. Natürlich braucht es meine individuelle Arbeit, meine individuelle Reifung, also eigene Praxis. Doch Alltag findet immer im Dialog statt. Lass uns unser Gespräch nehmen: Wir treffen uns, wir kennen uns eigentlich nicht, wir sitzen hier … Hab ich die Offenheit, Dich wahrzunehmen? Können wir die Situation, in der wir sind, wahrnehmen und das, was zwischen uns leuchten möchte, zum Leuchten bringen? So, dass etwas aus der Begegnung entsteht und zwischen uns emergiert, zu dem ich nicht in der Lage wäre ohne Dich und Du nicht ohne mich? Und das gilt für jede andere Begegnung: kann ich für das da sein, was in der vielleicht nur kurzen Begegnung möglich ist oder verschließe ich mich? Für mich bedeutet gelebte Spiritualität, meine Individualität für das zu verwenden, für das da zu sein, was sich im gegenwärtigen Moment zeigt. Praktischer geht es nicht. Unser emergent dialogue bietet Übungsräume, in denen das praktiziert wird – aber es geht nicht um die Übungsräume, es geht um die Lebensräume.

L.: Man kann im Wesen spüren und lernen wie es sich anfühlt, wenn wirklich Begegnung stattfindet. Man kommt sich nah und es entsteht eine Art von Intimität.

Sich einlassen auf das Nichtwissen des Augenblicks

T.S.: Ja, eine wesentliche spirituelle Qualität entsteht: das Vertrauen, sich einzulassen auf das Nichtwissen des Augenblicks. Also nicht in dem hängenbleiben, was ich als Gewusstes mit in das Gespräch bringe. Nichts gegen Wissen, doch wirkliche Begegnung entsteht dort, wo ich das Gewusste hinter mir lasse und neugierig bin auf das, was gerade jetzt, im Augenblick der Begegnung entsteht und was ich noch nicht weiß.

L.: Auch in nicht-homogenen Gesprächsgruppen ist zu spüren, wenn dieser Moment der Öffnung geschieht. Die Menschen sprechen dann von einem anderen Punkt ihres Wesens aus. Das dauert vielleicht eine Weile, und es braucht dann Mut, aus dem zu sprechen, was man wahrnimmt. Doch mit diesem Schritt ins Unbekannte verändert sich die Qualität des Gesprächs.

T.S: Dialog ist dann am spannendsten, wenn Menschen die Kraft haben, Andersheit zuzulassen und dann die Einheit in der Andersheit erfahren. Es gilt, die Reibung auszuhalten, die entstehen kann, wenn man sich nicht innerhalb eines geistigen Gebäudes, einer gleichen Ausrichtung trifft. Ist auch dann eine Begegnung in Offenheit möglich, ohne dass man auseinanderfliegt?

Daraus entstehen oft die kreativsten Begegnungen. Es zeigt sich etwas Neues, gerade weil wir nicht von gleichen Gedankengebäuden ausgehen. Das verlangt viel von den Beteiligten, doch wenn es gelingt, ist das phänomenal. Ich würdige dich, bin interessiert und will dich hören, ohne mich zu verweigern, indem ich so tue, als wäre ich nicht unterschiedlich – und dann kann etwas emergieren. Das ist spannend, und ich glaube, dass wir das dringend brauchen, um uns in einer offenen Gesellschaft zu begegnen, in der wir unterschiedlich sein und doch in tiefer spiritueller Begegnung auf diesem Planeten miteinander leben können.

L.: Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

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Datum: Oktober 21, 2020
Autor: Peri Schmelzer (Germany)
Foto: Jiří Rotrekl auf Pixabay

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