Das heilende Prinzip einer Pflanze ist ihr Archetyp
Paracelsus sagte, dass das Arkanum das Wesentliche der Arznei sei, und nicht das, was die Zähne kauen können. Damit meinte er, dass das Wichtigste eines Arzneimittels nicht die Wirkstoffe sind, sondern ein geistiges Prinzip, das er Arkanum nannte. Dieses geistige, heilende Prinzip ist bei der Pflanze der Archetyp. Somit ist der Archetyp einer Pflanze das höchste, was durch eine pflanzliche Zubereitung zur Wirkung gelangen kann. Doch wie ist das möglich? Geschieht diese Verbindung mit dem Arkanum, also mit dem Archetyp, wenn wir eine Pflanze einfach essen oder einen Teeaufguss trinken? Nein, denn dazu bedarf es eines pharmazeutischen Prozesses mit der Pflanze, der wichtige alchemische Prinzipien berücksichtigt. Was heißt das? In der lebenden (und auch in der getrockneten Pflanze) ist der Archetyp zur Wirkungslosigkeit gelangt, denn seine ganze Kraft hat sich in der Formbildung erschöpft. Da die Form in der ausgewachsenen Pflanze praktisch vollendet ist, hat der Archetyp seine wesentliche Potenz ausgeschöpft und befindet sich nun in einer latenten Phase. Um den Archetypen wieder zu aktivieren, muss er von seiner „Gefangenschaft“ in der physischen Form «befreit», losgelöst werden.
Das ist das Ziel der alchemischen Herstellverfahren, die auch unter dem Begriff Spagyrik bekannt sind, sowie bestimmter homöopathischer Verfahren, die mit einer Formauflösung arbeiten. Dadurch wird der Archetyp aus der Form befreit und kann nun in eine resonante Verbindung mit der Arznei treten, die bei einer Therapie auf die Psyche des Menschen übertragen werden kann.
Demgegenüber stehen, auf einer niedrigeren Wirkstufe der Arzneipflanze, die stofflichen Wirkprinzipien, die durch ihren Stoffwechsel gebildet werden und die demzufolge einen Einfluss auf den Stoffwechsel des Menschen, also auf seine physischen Funktionen haben.
Da weder Geist (Archetyp) noch Seele (das energetische Band) der Pflanze in der Pflanze „drinnen“ sind, sondern von außen auf sie einwirken hat eine Pflanze kein Bewusstsein im gleichen Sinne wie ein Tier oder gar ein Mensch, obwohl eine Pflanze natürlich auch Wahrnehmungen hat.
Es gibt eine uralte Weisheit:
Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen.
Wie erfolgt die Therapie durch das pflanzliche Arkanum?
Wenn bei einem Menschen aufgrund einer Krise, einer Blockade oder einer schicksalshaften Konstellation sich einzelne Eigenschaften nicht ihrer Natur gemäß offenbaren können und es deshalb zu einer Blockade im Lebensfluss kommt, kann durch eine Pflanze, die genau diese Eigenschaften verkörpert ein Transformationsprozess unterstützt werden, wobei die Betonung auf «Unterstützung» liegt, denn die Hauptarbeit bei einer psychischem Transformation liegt immer beim Bewusstsein.
Wir wollen dies anhand der Signatur und des Wesens einer bekannten Arzneipflanze beschreiben.
Pflanzenbeispiel: Die Goldrute
Signatur
Die Echte Goldrute (Solidago virgaurea) gehört zur Familie der Korbblütler, deren charakteristisches Merkmal die zu Körbchen zusammengefassten Blütenstände sind. Eine scheinbar »einzelne« Blüte eines Korbblütlers, wie zum Beispiel einer Sonnenblume, besteht aus vielen kleinen Einzelblüten, die auf einem Blütenboden dicht zusammenstehen und von Reihen aus grünen Hüllblättern zusammengefasst werden. Bei der Sonnenblume wird die braune Blütenscheibe in der Mitte durch zahlreiche Einzelblüten gebildet, die jede einen Sonnenblumenkern hervorbringen. Der lückenlose Kranz aus gelben »Blütenblättern«, der die braune Blütenscheibe wie eine Krone umgibt, wird aus Zungenblüten gebildet. Jedes der »Blütenblätter« der Sonnenblume ist eine einzelne Zungenblüte.
Bei der Goldrute findet man eine seltene Abweichung vom Grundbauplan dieser Familie. Die Krone ihrer Blütenkörbchen ist nicht vollständig ausgebildet, es fehlen einzelne Zungenblüten. Es erscheint so, als ob man einzelne randständige Zungenblüten ausgerissen hätte. Doch in seinem Gesamtbild hinterlässt der Blütenstand keinen mangelhaften Eindruck. Zusammen ergeben die Blüten das Bild eines harmonischen Ganzen von starker Ausstrahlung – einerseits bedingt durch das enge Zusammenstehen der einzelnen Blütenkörbchen, sodass sie wie ineinander verzahnt sind und die Lücken gar nicht mehr auffallen, und andererseits durch ihre strahlende, goldgelbe Farbe.
Interpretation
Unsere psychische Hülle wird vor allem durch die Gefühle bestimmt. Die positiven emotionalen Beziehungen zu den Menschen, die uns am nächsten stehen – wie Eltern, Ehepartner, Kinder und Freunde – oder mit denen wir täglich zusammenarbeiten, bilden ein psychisches Netzwerk, in das wir eingebettet sind und das uns Geborgenheit vermittelt. Dieses Netzwerk bildet und stärkt unsere psychische Hülle.
Die Psyche des Menschen entspricht bei der Pflanze den Blüten. Die Blüten sind analog den Gefühlen und den spontanen, noch nicht zur Tat und Reife gekommenen Gedanken. Was bedeutet es nun, dass die Blütenkronen der Goldrute lückenhaft sind und man den Eindruck bekommt, jemand hätte einzelne Zungenblüten herausgerissen? Kann man darin den Verlust einer wichtigen Gefühlsbeziehung sehen?
Beim Lesen in der Signatur einer Pflanze kann man sich an eine goldene Regel halten:
Wenn eine Pflanze in einem bestimmten Teil eine Abweichung von der Norm, einen Mangel, einen „Fehler“ anzeigt, hat sie immer auch die Lösung dafür bereit. Denn alles in der Natur strebt stets nach Gleichgewicht, nach Ausgleich, nach Kompensation.
Was heißt das bei der Goldrute? Ihre Blütenstände sind so strahlend, so vollkommen, dass die Lücken bei den einzelnen Körbchen gar nicht auffallen. Es scheint, dass gerade durch die Lücken eine noch innigere Verbindung der Blüten zu einem Ganzen möglich wird.
Deshalb kann man in dieser Signatur eine Wesenskraft erkennen, die beim Menschen Trost und psychische Energie vermittelt, wenn eine wichtige Beziehung zerbrochen wurde, sei es durch den Tod eines Nahestehenden, eine schwere partnerschaftliche Krise oder Scheidung, die Aufkündigung einer Freundschaft oder einer Arbeitsstelle. In solchen Fällen kann also ein aus der Goldrute hergestelltes Arzneimittel unterstützend wirken. Die Information, die sich in der Signatur der Goldrute zeigt, fügt sich mit der entsprechenden Information im menschlichen Geist zusammen und entfaltet dabei eine stimulierende und heilende Wirksamkeit.
Man kann die Signatur auch noch aus einer weiteren Perspektive betrachten, die zum gleichen Schluss führt: Das Unvollständige tritt auf eine andere Art in Beziehung zu den Mitmenschen als das Vollständige und Ganze. Etwas Ganzes ist in sich abgeschlossen und autonom. Das Unvollständige hingegen ist auf die Ergänzung durch das andere, durch einen Partner, eine Partnerin angewiesen. Was nicht »rund« ist, das nicht Perfekte, ist abhängig von der Beziehung mit anderen. Nur durch die Verbindung mit ihnen kann etwas Ganzes, Lebensfähiges entstehen. Das ist die reale Situation des Menschen, denn Vollkommenheit ist nur auf der Ebene der Ideen und Prinzipien möglich, aber nicht in der Realität.