Das Wunder im eigenen Selbst. Gedanken zur Natur- und Kulturheilkunde – Teil 1

Wie kann Heilung in Notsituationen stattfinden, ohne äußere Hilfsmittel? Von den vier Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen

Das Wunder im eigenen Selbst. Gedanken zur Natur- und Kulturheilkunde – Teil 1

Stellen wir uns vor, es fällt in einer Großstadt der Strom aus. Nicht nur einen Tag, sondern zwei, drei und mehr Tage. Sogar der erste Tag könnte bereits Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Wir wissen ja, dass alles miteinander verbunden ist: Wasser haben wir dann also sehr bald nicht mehr; Verkehrsmittel können nicht fahren; Computer und Telefone funktionieren nicht. Das heißt, wir sind relativ schnell, vielleicht nach einer Woche, in einer Situation, wo wir auch die technischen Mittel der modernen Medizin nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt nutzen können; selbst Medikamente sind nicht mehr verfügbar; Operationen in Krankenhäusern können nicht mehr stattfinden. In einer solchen Situation werden Mediziner wohl oder übel zu Barfußärzten[1], um überhaupt etwas für die Versorgung kranker Menschen zu tun. Das heißt, sie müssen handeln ohne äußere Hilfsmittel. Es bleiben zumindest die vier folgenden Möglichkeiten für eine Heilung:

  1. Eine grundlegende Haltung: Da sein. Den kranken Menschen nicht allein lassen.
  2. Die Heilkraft der Natur: Die Mittel der Natur nutzen.
  3. Die Heilkraft der Kultur: Die Kraft unseres Geistes und Bewusstseins nutzen.
  4. Das Wunder in unserem eigenen Selbst: Den kranken Menschen in seiner Selbstwirksamkeit stärken und die Kraft der Selbstheilung anstoßen.

            Was bleibt, wenn gar nichts mehr geht?

Keine Medikamente, keine Operationen? Keine Technik?

Präsenz, Liebe und Zuwendung als Kern der Heilkunst!

Hartmut Schröder

Die grundlegende Haltung: Da sein. Den kranken Menschen nicht allein lassen

Wenn wir einmal in Gedanken zu den ganz frühen menschlichen Gemeinschaften zurückgehen, die noch nicht über eine entwickelte Heilkunst verfügten, so stellt das Gebot einer empathischen Präsenz in Verbindung mit einer eher zurückhaltenden und achtsamen Haltung hinsichtlich therapeutischer Interventionen möglicherweise den historischen Ausgangspunkt der Heilkunde dar. Noch für die antiken Ärzte stand an allererster Stelle: nicht zu schaden; an zweiter Stelle: vorsichtig zu sein; erst an dritter Stelle: zu heilen. Dieser Dreisatz galt genau in dieser Reihenfolge.

Im Kontext damit stellt sich natürlich die Frage, was überhaupt das Wort Heilen bedeuten kann in einer Situation, wo das Machen in einem naturwissenschaftlich-technischen Verständnis von Heilkunst gar nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt möglich ist. Der Philosoph Ivan Illich hat das wohl ursprüngliche Verständnis des Heilens sehr einfach und zutreffend beschrieben: „Heilen ist meist eine traditionelle Art und Weise, Menschen zu pflegen und zu trösten, während sie genesen.“[2] In einem solchen Verständnis von Heilen nehmen Ärzte eine Haltung der Demut ein und verstehen ihre Rolle darin, Impulse zu geben sowie einen Rahmen zu schaffen, in dem Heilung geschehen kann. Heilung ist in dieser Hinsicht immer Selbstheilung, womit ein innerer Prozess der Selbstregulation gemeint ist, der freilich bisweilen äußerer Anstöße bedarf. So heißt es dann auch bei Alfred Goldscheider, einem Klassiker der Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts und dem Nestor der modernen Neurologie: „Heilen ist immer Einfluss gewinnen auf die Kräfte, welche die Substanz formen.“[3]

Was sind das aber für Kräfte, die die Substanz formen? Gemeint sind damit wahrscheinlich die Kräfte der Natur selbst sowie Informationen aus dem kulturellen Kontext. Neben den Begriffen Materie und Energie gehört der Begriff Information in der Kybernetik als dritte Größe zum Verständnis des Lebenden dazu, worauf Norbert Wiener hingewiesen hat.[4]

Dabei kann Information eigentlich alles sein: sogar das Nichts; denn auch einer Auslassung bzw. einer Lücke in der Kommunikation kann in einem bestimmten Kontext Bedeutung zugesprochen werden. Wenn der Arzt während einer Untersuchung (z.B. beim Sonographieren) länger als ein paar Sekunden schweigt, kann gerade dieses Nichtsprechen vom ängstlichen Patienten mit einer negativen Bedeutung aufgeladen werden. Veränderungen in der Stimme oder im Blickkontakt erzeugen ebenfalls Bedeutung. Alles kann zu jeder Zeit bedeutungsvoll sein, auch wenn es explizit nicht ausgedrückt wird.

Aus der medizinischen Praxis ist daher gut bekannt, dass man allein durch eine Information bzw. das Weglassen einer solchen jemandem helfen bzw. der Heilung einen Impuls geben oder aber ihm schaden, d.h. Heilung verhindern oder sogar Krankheit erzeugen bzw. den Tod herbeiführen kann.

Die Logik der modernen Schulmedizin ist eine Logik der Machbarkeit. Sie tritt – so der Philosoph Christoph Quarch[5] – mit dem Anspruch auf, es besser zu machen als die Natur, bzw. die Fehler der Natur zu beheben: Sie repariert, entwickelt Ersatzteile und entfernt das, was stört. Im Vergleich dazu ist das Besondere der Barfußmedizin bzw. der antiken Heilkunst, dass zu ihrem Wesen das „Wiederherstellen von Gleichgewicht“ gehört: Sie strebt ein Wiederherstellen des natürlichen Gleichgewichts des Lebens durch Heilreize (Informationen) an. Heilkundige versuchen dabei, den kranken Menschen dazu anzuregen, wieder Ordnung in das Leben zu bringen. So unterstützen sie die Selbstregulation, regen die Selbstheilung an und tragen damit zu einer Ausbalancierung und zu einer Harmonisierung bei. Das geht durchaus auch ohne aufwendige Hilfsmittel – vor allem über Bewusstsein und Informationen.

Nicht im Rezept liegt das Heil

Es liegt in der Summe der täglichen Lebensführung

Vinzenz Prießnitz

Die Heilkraft der Natur: Die Mittel der Natur nutzen!

Erwin Liek[6] hat darauf hingewiesen, dass es Ansätze von Heilkunst bereits bei Tieren gibt: sie, lecken sich ihre Wunden, fasten und ruhen – fressen sogar bestimmte Pflanzen, um wieder in die Balance zu kommen. Neben der soeben beschriebenen grundlegenden Haltung können Barfußärzte in einer angenommenen Notsituation daher auch die Heilkräfte nutzen, die die Natur uns von sich aus schenkt. Deren Möglichkeiten sind seit der antiken Medizin gut bekannt und eigentlich immer zugänglich. Die antike Medizin verfügte in dieser Hinsicht über eine entwickelte Diätetik, d.h. eine ganzheitlich ausgerichtete Lebenskunst sowohl zur Gesunderhaltung als auch für Zwecke der Heilung von Krankheiten. Bereits im „Corpus Hippocraticum“ finden sich Hinweise auf Heilreize, deren Ziel es jeweils war, wieder ein Gleichgewicht bzw. Harmonie herzustellen. Dies kann u.a. durch die folgenden natürlichen Mittel geschehen:

  • Licht und Luft
  • Speise und Trank
  • Arbeit und Ruhe
  • Schlaf und Wachen
  • Ausscheidungen und Absonderungen

 

Hipocrates

 

    In der Geschichte der Medizin entwickelte sich daher schon sehr früh eine Vielzahl entsprechender Heilmethoden. In der modernen Naturheilkunde werden sie als Ordnungstherapie oder als Regulationsmedizin bezeichnet. Sie erfassen den gesamten Lebensstil und reichen von der Körper- bis zur Psychohygiene. Vinzenz Prießnitz, einer der Begründer der modernen Naturheilkunde, hat vor diesem Hintergrund die Essenz der Naturheilkunde in folgendem Satz zum Ausdruck gebracht: „Nicht im Rezept liegt das Heil. Es liegt in der Summe der täglichen Lebensführung.“[7] Sebastian Kneipp ging sogar noch einen Schritt weiter. Ihm reichte die „Ordnung im Leben“ nicht aus, wenn es um Heilung geht. Seine Erfahrungen drückt er in dem folgenden Satz vortrefflich aus:

    „Erst als ich daran ging, Ordnung in die Seelen meiner Patienten zu bringen, hatte ich vollen Erfolg.“[8]

    Behandlungen mit den reichhaltigen Mitteln der Natur, mit Hilfe der Kommunikation und Sprache sowie schließlich durch Seelsorge sind wichtige Grundlagen einer ganzheitlichen Heilkunde und stehen dem Barfußarzt immer zur Verfügung – auch in Notzeiten.  

    (wird fortgesetzt in Teil 2)


    [1] In Wikipedia finden wir den Hinweis, dass die Bezeichnung Barfußarzt aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution stammt, als man Personen aufgrund des Ärztemangels auf dem Land in traditioneller chinesischer Medizin ausbildete. Sie zogen barfuß von Dorf zu Dorf.

    [2] Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. München 1995: Verlag C.H. Beck.

    [3] Zitiert bei Erwin Liek, Das Wunder in der Heilkunde, München 1930.

    [4] Norbert Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. Cambridge. MIT Press 1961.

    [5] Christoph Quarch: Gesund ist, wenn die Seele stimmt. Heilung als die Kunst, den Leib in gute Stimmung zu versetzen. Unveröffentlichtes Manuskript (2012).

    [6] Erwin Liek, Das Wunder in der Heilkunde, München 1930, 192, S. 56

    [7] Online: https://www.naturheilbund.de/der-dnb/125-jahre-deutscher-naturheilbund-e-v/.

    [8] Online: https://kneipp-verein-spiesen.de/kneipp-philosophie/.

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