Gefäße

Gefäße

Das Wesen des Menschen reicht von der Erde bis in die höchsten Höhen von Bewusstheit und Kraft; schließlich rührt es an das unkennbare Numinose.

Wir leben in derjenigen Sphäre, in der unser Bewusstsein sich verankert. Verlagert sich unser Bewusstseinsschwerpunkt, mithin unsere Identifikation, so erfahren wir andere Schichten unseres Wesens und des Kosmos.

Die ursprüngliche schöpferische Kraft ist Klang. Schwingung schafft Form und erhält sie am Leben. Der Klang des Ursprungs transformiert (sic!) sich selbst und geht in immer konkretere Formen ein, wird selbst Form – durch alle kosmischen Gebiete hin. Deshalb kann man sagen, dass alles aus einer Urharmonie stammt und ihr Ausdruck gibt. Man kann aber auch feststellen, dass das Urbewusstsein, das mit der Energie in die Formen eingegangen ist, in uns heute nicht mehr wach ist: Eher leben wir mit ihm wie mit einer fernen Erinnerung. Wir leben in der Trennung, auch wenn wir Verbindung, Gleichklang und Weite suchen. Zwischen unserer jetzigen Identität und dem Urklang türmen sich Dissonanzen wie Wellen auf, die vom weiten Ozean kommen und an der Küste zu Brechern werden. Das Ufer ist steil, die Identität lebt (noch) vor allem von ihrer Begrenzung.

Das Instrument

Dennoch sind wir Instrumente, in denen der Urklang widerklingen kann, in denen Gott sich nicht nur ausdrücken, sondern die in ihm beschlossene Vielheit erfahren kann. Rumi (1207-1273) sagt dazu:
Der Mensch ist das Astrolab Gottes. Solch ein Astrolab ist ein astronomisches Navigationsinstrument, ein Sternenleser. In seiner dreidimensionalen Form, die einem Globus gleicht, zeigt es den Himmel von außen, so wie der mikrokosmische Mensch gleichsam als Veräußerlichung Gottes aus der Einheit herausgetreten ist. Doch der Himmel muss gelesen werden, damit wir uns auf Erden orientieren können. Rumi erklärt es so: Der Mensch ist ein Sinnesorgan Gottes, ein Spiegel, der beide, Mensch und Gott, erkennbar werden lässt. Nur Gott selbst kann das Astrolab bedienen: In der Hand des Astronomen ist das Astrolab höchst nützlich, denn wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn. Wenn der innereigene Gott erwacht, gebraucht er das Navigationsinstrument. Die himmlischen Sphären werden gelesen, ihre Kräfte fließen transformierend in den irdischen Lebensweg ein. Den Himmel lesen bedeutet dann: den eigenen Standpunkt auf Erden neu erkennen; die Energien, in deren Schnittpunkt man steht, verstehen und ohne Widerstand zum Erwachen nützen.

Zerstörung, Wandlung, Neuschöpfung

Kennen Sie die Theorie von der Eigenschwingung? Jeder Gegenstand hat eine Eigenfrequenz. Brücken, über die Soldaten in einem bestimmten Rhythmus gehen; Gläser, die angesungen werden: beide zerbrechen. Wird ein Gegenstand in seiner Eigenfrequenz angeregt, kann seine Schwingung so stark werden, dass er zerstört wird. Das nennt man Resonanzkatastrophe. Ist es Tod, ist es Befreiung des Wesentlichen?

Die paracelsische Medizin geht davon aus, dass die heilende Essenz aus einer Pflanze nur gewonnen werden kann, wenn die irdische, die erste Form durch Verwesung stirbt. Das Gute bzw. Geistige und Böse bzw. Materielle können dann voneinander geschieden und das Heilsame kann extrahiert werden. Das erste Leben, in dem Gut und Böse untrennbar vermischt sind, so schreibt Paracelsus in seinem Opus Paramirum, muss sterben, damit eine Wiedergeburt geschehen kann, in der die geheimen Wahrheiten und Heilkräfte zu Tage treten. So wird die Verwesung als ein notwendiger Prozess im Kreislauf des Lebens erkennbar, der die Reinheit und die hilfreichen Eigenschaften aus der Zersetzung herausfiltert.

Paracelsus spricht auch beim Menschen von der Extraktion der Quintessenz – seiner reinsten, göttlichen Essenz. Diese geschieht nicht nur im physischen Tod, bei dem die Quintessenz die nächste Inkarnation vorzubereiten hilft. Als Alchemist kennt Paracelsus den Tod im Leben, der durch bewusste Arbeit an sich selbst bereits zu Lebzeiten die innereigene Quintessenz zu befreien vermag.

Dieser Gedanke kann beängstigend oder beflügelnd sein, wenn man die Harmonie mit dem Ursprung sucht und auf diesem Weg mit dem mystischen Tod als einer tiefgehenden Transformation konfrontiert wird. Das Bild klärt sich, wenn man den genannten Transformationsprozess aus der Perspektive der Identitäten zu sehen lernt, die der Mensch annehmen kann, vom (sterblichen) Individuum hin zum All-Einen, gar zu einem Ursprung, der weder Sein noch Nichtsein ist. Unser Problem bleibt die Schale unserer Identität, die sich öffnet oder zerbricht.

Lassen wir alles zurück, wenn wir den Weg zu höheren Zuständen gehen und dabei die alte Schale preisgeben? Eine Facette der Antwort ist: Wir feiern Abschied und brechen auf. Das, was war und uns den Aufbruch ermöglichte, ist tatsächlich als Essenz innerlich erkennbar geworden, es ist eine heilsame Medizin, die durch Abschied und Aufbruch zu wirklichem Besitz geworden ist. Denken Sie an etwas, das sich als Erfahrung so tief in Ihnen verankert hat, dass Sie es nie mehr verlieren können: Die Zeit des Erlebnisses mag fern, seltsam und fremd erscheinen, doch die Essenz ist frisch und gegenwärtig, weil sie aus einer vollendeten Erfahrung stammt.

Gefäße

Wir Menschen gleichen Gefäßen, die in feineren Gefäßen stecken. In allen schwingt eine lebensspendende Energie, feiner oder gröber. Das jeweils feinere Gefäß ist der Lebensspender und Formgeber des gröberen. Vielleicht übersetzt sich in uns der Urklang schon in eine ganze Sinfonie. Unser Seelenleben ist sehr konkret und ausdifferenziert, es ist die Summe vieler Leben. Kein anderer Mensch kann den Klang hervorbringen, der in uns schwingt. Jedoch welch einen größeren Reichtum können wir erleben und in uns verkörpern, wenn wir uns in eine kosmische Sinfonie einzugliedern wissen.

In uns spielt nicht immer die Sinfonie. Ängste, Begierden und Konflikte zerstören den Wohlklang. Sie zeigen jedoch auch, dass wir auf der Suche nach Übereinstimmung mit dem größeren Gefäß sind, nach mehr Weite – eine Suche, die wir als Iche im begrenzten Stoff nicht zur Erfüllung bringen können. Hier geht es nicht nur darum, in einen höheren Schwingungszustand einzutreten, sondern auch, eine neue Identität zu finden, die nicht mehr um das Eigene, den Wirkungskreis, den Besitz, um Sicherheit und Selbsterhaltung kämpft, weil sie das sogenannte Eigene im alten Sinne nicht mehr sucht. Können wir unser Wesen weiten, so dass anstelle des Zusammenpralls einander entgegen gerichteter Energien Resonanzen entstehen? Hier kann eine innere Alchemie beginnen, die aus der Asche der Vergeblichkeiten eine neue Geburt hervorbringt. Die Seelen nehmen die Erfahrung des In-sich-Abgeschlossen-Seins mit auf die Reise zu einer anderen Art des individuellen Seins. Erst suchten wir das Meer im Tropfen zu bergen, dann entdecken wir, dass wir das Meer sind. Ganz am Anfang schon berührt es uns.

Immer erzeugt das schwingende Gefäß den Klang. Was ändert sich auf dem Weg, vielleicht sogar von Anfang an? Die Grenze zwischen uns und „allem anderen“ verliert ihre angstbesetzte Starrheit, sie muss nicht mehr Bollwerk oder Waffe sein, sie wird vielmehr zu einem geschmeidigen Mittel der Verbindung, des Austauschs. Wir können auf die anderen lauschen, reagieren auf ihren Klang. Und die anderen antworten auf uns. Ein riesiges Orchester, das gemeinsam improvisiert und Klangwelten erobert.

Auf dem Weg zu den umfassenderen Gefäßen liegt immer wieder Stille. Wenn die Rastlosigkeit, der Streit, das Suchen und Denken aufhören, entsteht für Momente ein Raum der Stille. Da wird nicht gleich etwas anderes hörbar. Dennoch hat diese Stille Eigenschaften. Sie ist schöpferisch, sie ist einend, nach innen wie nach außen. Sie bringt in uns andere Bewegtheiten hervor, ein anderes Hören, Sehen, Handeln, Begegnen. Das Individuum (post-)moderner Prägung ist durch das Nadelöhr seiner Selbstfindungsprojekte und seiner Abgrenzung hindurchgegangen und hat alles dem noch unbekannten, größeren Raum anheimgegeben. Es lauscht nach seinem wahren Selbst und findet eine tiefliegende Strömung, der es folgen kann. Verwandlung!

Für uns als Irdische bleibt das, was uns da begegnet, im Verborgenen. Unsere Zentralperspektive kann das Wesen des All-Ganzen nicht fassen, aber es lernt, mit ihm mitzuschwingen. Der Mensch ist das Geheimnis Gottes. Gott ist das Geheimnis des Menschen. So sagt es Abd al Qadr al Jilani, der Sufi aus dem 12. Jahrhundert. Gott verbirgt sich hinter vielen Schleiern, hinter unzähligen Bewusstseins- und Schwingungszuständen. Und zugleich ist er sie alle. Rumi wiederum spricht seinen Lesern mit diesen Worten Mut zu: Hör auf, so klein zu sein. Du bist das Universum in ekstatischer Bewegung.

Ich frage mich manchmal, was der Sinn dieses meines physischen Gefäßes ist, das ohne Grenzen nicht denkbar ist. Welche Seinsweisen, welche Erfahrungen sind nur hier möglich? Vielleicht mussten wir den Weg der Selbstfindung bis zu dieser Grenze gehen, wo das Sich-Definieren (als tatsächliche Begrenzung) möglich ist, damit wir von hier aus zum Unbegrenzten aufbrechen können. Dennoch bin ich überzeugt, dass auch in der physischen Form der Urklang wieder schwingen kann, wenn wir uns selbst loslassen, wenn wir es wagen, vom Festumrissenen mit seiner dunklen, suchenden Mitte zum rein klingenden Instrument und zum Weg zu werden. Dann wird alles Konkrete, was sich durch unser Leben zeigen kann, zur Facette des Gottes in uns.

Die Leere macht das Instrument brauchbar.
Lao Tse, Tao Te King, Kapitel 11

PS Dieser Article gehört zu einer Reihe von Texten über das Thema „Die Magie von Wort und Klang“

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Datum: Oktober 14, 2025
Autor: Angela Paap (Germany)
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