Nach Platon besitzt der Mensch drei Seelen. Der nach Einheit strebende Teil entwickelt eine Einfalt, die dem Menschen die Augen für die Fülle des Geistes wieder öffnet.
Die Vielfalt ist das erste, was wir erblicken, wenn sich die Augen öffnen. Alles, was sich bewegt oder uns fremd erschein, erregt unsere Aufmerksamkeit erzeugt Emotionen, Gedanken und Reaktionen. Doch schon jede Reaktion auf das Wahrgenommene ist individuell, und das setzt sich fort Während der eine neugierig das Objekt seiner Aufmerksamkeit betrachtet, in die Tiefen seines Wesens vorzudringen versucht und vielleicht mit Fragen die Neugierde lebendig erhält, verliert ein anderer schnell wieder sein Interesse und wendet sich neuen Eindrücken zu. So steht hier auf der einen Seite der Sprung von einem Eindruck zum anderen, wie eine Biene, die fleißig von Blüte zu Blüte fliegt und auf der anderen Seite die Vertiefung in einen Eindruck oft über viele Jahre hinweg.
Im Thomasevangelium Logion 5 sagt Jesus:
Erkenne, was vor deinem Angesicht ist, und das, was dir verborgen ist, wird offenbart werden. Denn nichts, was verborgen ist, wird nicht offenbart werden.
Die Materie als eine lebendige Welt
Die materielle Welt ist ein Lebewesen, dass sich durch Vielfältigkeit und Veränderung in Form, Farbe, Geruch und Haptik ausdrückt. In dieser veränderlichen, lebendigen Welt der tausend Dinge ist unsere sinnliche Wahrnehmung darauf ausgelegt, besonders Veränderungen wahrzunehmen. Ein Geruch, der länger anhält, verflüchtigt sich wieder aus unserer Wahrnehmung. Ebenso stehlen sich die Geräusche und Gegenstände, die immer gleich, am gleichen Ort auftreten, schnell aus unserer Aufmerksamkeit davon. Unsere Kultur ist ständig darum bemüht, neue Zusammenhänge, neue Form-, Klang- und Farbkomposition zu entwickeln, um den Menschen erneut ihre Aufmerksamkeit zu entlocken. Das magische Wort in vielen Lebensbereichen ist „Neu“. Mit ständiger Veränderung von Formen, Farben, Tönen und Bewegungen versucht die materielle Welt, den Menschen in ihre geheimnisvollen Tiefen zu locken und sinnesorganisch zu binden. Sie hat eine äußere Formenseite, die lebendig ist und sich ständig verändert und eine verborgene innere Seite, zu der man durchdringen kann und die eine geistige Dimension hat.
Das Lebendige ist das, was die Seele ausmacht. Platon bezeichnete alles „Lebendige“ als Seele, im griechischen als Psyche. Für ihn war auch der Kosmos lebendig bzw. beseelt, da er aus einer materiellen Struktur besteht, die immer in Bewegung ist. Die Beschäftigung mit dem, was er Seele nannte, war ein zentraler Punkt seiner philosophischen Überlegungen. Die Quelle aller Lebendigkeit und Entwicklung war für ihn als höchste geistige Struktur die Welt der Ideen. Die Seele war für ihn notwendig als Vermittler zwischen den abstrakten Ideen und dem Menschen, der in der Materie lebt.
Es wohnen drei Seelen in jedem Menschen
Für Platon besitzt der Mensch drei Seelen. Die höchste ist die unsterbliche Vernunftseele. Ihr Wohnort ist der Kopf und ihr Lebensraum die göttliche Ideenwelt. Der abstrakte Gedanke, der sich in der Vernunftseele spiegelt, ist für den Menschen die Möglichkeit, an den „Ewigen Ideen“ Anteil zu erhalten. Um gleichzeitig in der göttlichen Ideenwelt zu schauen und in der Materie wirken zu können, besitzt der Mensch noch zwei weitere sterbliche Seelen. Da ist zum einen die „Mut-artige“ Seele und zum anderen die „materielle Seele“. Die materielle oder naturhafte Seele ist triebgesteuert wie ein wildes Tier und kann höchstens gezähmt werden. Ihre Überwindung besteht letztlich in einer Unterordnung unter die Vernunftseele und einer unterordnenden Handreichung an die Mut-artigen Seele. Sie wird nie in der Lage sein, sich nach oben zu richten bzw. sich zu vergeistigen. In einem beständigen Reinigungsprozess kann sie aber ihre Bindung an die Erde mindern. Die Mut-artigen Seele versucht das vernünftig erkannte gegen die Widerstände der materiellen Seele durchzusetzen. Nach Johann Wolfgang von Goethe hat Mut Genie, Kraft und Zauber in sich. Sie ist zwar sterblich, kann sich aber nach oben richten und mit der Vernunftseele verbinden. Die Vernunftseele und die Mut- artige Seele Platons verschmelzen über viele Inkarnationszyklen zu einer unsterblichen Einheit.
Der geflügelte Streitwagen
Diese drei Seelen sind während des Lebens unabhängig voneinander und können auch miteinander streiten oder gegeneinander kämpfen. Platon benutzt für das Zusammenspiel dieser drei Seelenbereiche das Bild eines geflügelten Streitwagens mit der Vernunftseele als Wagenlenker und zwei sehr unterschiedlichen Pferden. Das wilde und ungestüme Pferd ist immer versucht, den Streitwagen nach unten zu ziehen, während der Mensch mit dem „Mut-artigen“ Pferd versuchen kann, den Streitwagen himmelwärts zu richten. Am glücklichsten ist derjenige, der in der Lage ist, den Streitwagen so zu führen, dass sich das wilde ungestüme Pferd zähmen lässt und der Vernunft unterordnet und das Mut-artige sich in beständiger Anstrengung himmelwärts richtet und an der Hand der Vernunftseele läuft.
Die drei Seelen haben nach Platon ihren festen Sitz im Körper des Menschen. Die Vernunftseele arbeitet mit den abstrakten Gedanken der ewigen Ideenwelt. Alles in dieser Welt erkennbare können wir nur wahrnehmen wenn es ein Urbild dazu in der Welt der Ideen gibt. Das Urbild eines Tisches sorgt in der Sinnenwelt dafür, dass wir jeden Tisch auch als solchen erkennen. Die Mut-artigen Seele versucht nun die sinnlichen Erfahrungen in der materiellen Welt mit den „ewigen Ideen“ abzugleichen, um im Leben eine vernünftige Lebensführung zu entwickeln, also den Streitwagen von der Erde zu lösen und himmelwärts zu führen. Die Aufgabe des Philosophen ist es, dem Menschen bei der Ausrichtung seines Streitwagens behilflich zu sein, so dass er durch Harmonisierung der drei Seelen in die Lage versetzt wird, sein Wesen über die materielle Welt zu erheben. Die Mut-artige Seele erfährt dabei eine tiefe Transformation. Sie bekommt zunehmend die Fähigkeit, integrativ zu wirken und im Menschen Besonnenheit und Gerechtigkeit zu entwickeln. Sie wohnt in der Brust des Menschen, ihre treibende Kraft ist der Mut.
Platon nennt das Philosophieren ein Sterben-lernen. Je umfangreicher der Mensch lernt, sich von der Vernunftseele leiten zu lassen, desto leichter fällt es ihm, sich in einem „Sterbeprozess“ von dem materiellen Körper zu lösen und ungehindert in die ewige Ideenwelt aufzusteigen. Die Bezeichnung „Mut-artige Seele“ ist heute eher ungewohnt und wir könnten eher von einer „Kulturseele“ sprechen, einem Mischgefäß, in dem die Auseinandersetzung zwischen Geist und Materie stattfindet. Sie besitzt die Freiheit, sich mit der Zeit oder der Ewigkeit zu verbinden. Verbindet sie sich stärker mit der materiellen Seele, die ihren Sitz im Bauch hat, dann übernimmt die materielle Seele die Führung und bindet den Menschen fest an die materielle Welt, so dass er seinen geistigen Ursprung vergisst. Das hat zur Folge, dass er sich nach dem Tod seines Körpers nicht vollkommen aus der materiellen Welt lösen kann und in einer erneuten Inkarnation weiter an die Materie gebunden bleibt. Für Platon ist die Seelenwanderung durch mehrere Körper zentraler Bestandteil seiner philosophischen Überlegungen und notwendig für die Entwicklung des Menschen zu seiner ursprünglichen Göttlichkeit.
Das Zusammenspiel der drei Seelen
Anhand den bisherigen Gedanken zeigt sich eine Polarität, die zwischen der Einfältigkeit der einzelnen Idee und der Vielfältigkeit in der Welt der tausend Dinge besteht. Nehmen wir als Beispiel einen Tisch. Hier in unserer Welt gibt es unendlich viele Tische, die sich in Form, Farbe und ihren unterschiedlichen Funktionen unterscheiden. In der abstrakten Welt des Geistes gibt es nur den Tisch. So steht die Vielfalt in dieser Welt des Werdens über die Vernunftseele in direkter Beziehung mit der Einfalt in der Welt des Seins.
Hier stellt sich nun die Frage, wie der Mensch aus der Vielfalt während seines Leben in eine bewusste Beziehung zu seinem Urgrund gelangen kann. Vielleicht wird nach den bisherigen Gedanken klar, dass der Mut-artigen Seele hier eine entscheidende Rolle zukommt. Es ist das Vorrecht des Philosophen, wie ihn Platon versteht, den Weg einer tiefen Transformation der Mut-artigen Seele zu gehen. Er beschreibt die Aufgabe des Menschen, sich von der Materie zu befreien, während er noch in der Materie lebt und sich dann erneut der Welt zuzuwenden, um anderen zu helfen, sich zu befreien.
Die Mut-artige Seele ist in diesem Prozess wesentlich, da sie dem Menschen durch ein entsprechend tugendhaftes Leben die Möglichkeit gibt, sich immer wieder nach oben oder nach innen zu richten, um das Wahre, Gute und Schöne zu erkennen. Die Vernunftseele ist ihr dabei behilflich, da sie die Wissbegier, den unermüdlichen Forscherdrang und die Sehnsucht nach wahrer Erkenntnis stimuliert. In harmonischem Zusammenspiel kompensieren sie ihre jeweiligen Schwächen. Die Vernunftseele kann nur wirken, wenn sie mit den anderen Seelenbereichen in Kontakt und Austausch tritt. Die Mut-artige Seele muss den Mut haben, sich von täglicher Gewöhnung zu lösen und immer wieder die Hand der Vernunftseele zu ergreifen, um sich nach oben bzw. nach innen auszurichten. Sie muss lernen, sich nur so weit auf die naturhafte Seele einzulassen, wie es für die Erfahrung und Entwicklung von Tugenden notwendig ist. Die materielle Seele tendiert dazu, sich in der Welt der tausend Dinge zu verlieren und mit ungezähmter Macht die Bindung an die Materie so zu verstärken, dass ein tugendhaftes Leben unmöglich wird. Sie entgeht dieser Gefahr, indem sie sich der Vernunftseele und der Mut-artigen Seele unterordnet.
Die Vielfalt und die Einfalt
Im Thomasevangelium. Log. 5 wie Anfangs angedeutet ist der Werdegang der Seele vorgezeichnet. Wenn die Seele ihren Weg durch die Welt der Sinne beginnt dann kann sie einfältig im Sinne von unerfahren sein. Mit jeder Erfahrung wird sie vielfältiger oft mit der Gefahr sich in der Vielfältigkeit zu verlieren. So, wie sie durch ihre Erfahrungen das verborgene hinter der sinnlichen Welt erkennt, beginnt sie eine neue Einfalt zu entwickeln. Sie gleicht sich der Welt an, in der sie die ewigen Ideen im Sinne Platons schauen kann. Deren höchste Ideen die des wahren guten und schönen sind. Sie bekommt damit Zugang zu einer Welt, die schon immer ihrem innersten Wesen entsprach.
