Sisyphus und Phönix – Vom Sklaven zum Menschen

Sisyphus und Phönix – Vom Sklaven zum Menschen

Einmal bleibt der Mann mit dem Stein, wo er ist – am Gipfel des Berges; er lässt den Stein herunter rollen, läuft ihm nicht mehr nach.

Der Stein rollt und rollt und rollt, und irgendwann macht es einen lauten Krach, der Stein zerbricht, Sisyphus aber steht am Gipfel des Berges, sieht voller Glück und Freude, voll tiefem Einverständnis das Feuer seines eigenen Herzens.

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Kino – Ich saß unlängst im Kino, es ist eines der älteren in der Stadt, in dem bekannte, meist klassische Filme gezeigt werden. Sah mir einen Krimi an; es geht hart her, die Handlung komplex, die Szenen kurz, die Musik zerrt an den Nerven – – – und plötzlich ist es weiß auf der Leinwand, erst schmerzhaft, dieses weiße Weiß; das Dunkel des Raumes ist kein Dunkel mehr; Stimmen von Besuchern, die irgendwie enttäuscht, manche aber auch erleichtert klingen; auch ich spüre meine schwitzigen Hände … Langsam geht die Beleuchtung im Raum an. Und wieder einmal frage ich  mich, wozu ich mir diesen Film habe anschauen müssen. Aus dem Off hört man die Stimme des Vorführers, der den Filmriss bedauert; klar, es ist ja ein alter Film von vor dem filmischen Digital-Zeitalter …

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Die Leinwand bleibt weiß, wieder die Stimme aus dem Off, der Filmriss sei Folge eines technischen Gebrechens am Vorführ-Apparat, das wie’s aussieht am heutigen Abend nicht mehr zu beheben sei. Das Geld gebe es an der Kasse zurück oder, wer wolle, bekomme auch einen Gutschein für zwei Film-Abende desselben cineastischen Großmeisters …

Es ist ein milder Spätsommerabend, bin froh, draußen zu sein, meine Begleiterin murrt ein wenig über den verhauten Abend und so; ich aber bin richtig froh, die angenehm warme Luft im Freien in meinen Lungen zu spüren … Im aufkommenden Wind hörst du das Rascheln der Blätter in den umliegenden Bäumen.

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Der Film – nichts als Farbtupfer auf Zellophan, die Schatten werfen auf eine weiße Leinwand und uns Bilder, Handlungen vorgaukeln – und je nach ihrer Art unsere Nerven zerrütten oder uns in irgendwelchen Illusionen wiegen wollen.

Sind der Großteil unserer Gedanken nicht auch solche dunklen Kleckse, die, von einem Licht bestrahlt, dessen Quelle ich nicht kenne, Schatten werfen auf und in unsere Seelen?

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Eigentlich ist die ganze komplizierte Welt einem Theater, oder vielleicht besser einem Kino gleich, in dem ununterbrochen Filme laufen, die vorgeben, neu zu sein, aber bei genauerem Hinsehen geht es stets um Wiederholungen alter Plots im neueren Gewand, mit denen man eben die heutigen Menschen interessieren oder, je nach dem, betören will und kann, vielleicht im Sinne einer Hypnose.

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Die Welt, ein Kaleidoskop von 10 000 Dingen, von unerhörten Konflikten, unerhörter Manipulation der Menschheit. Korruption, Lügen, Gewalt, Unrecht, soweit das Auge reicht. Im Herzen der Menschen, in der Tiefe lebt aber etwas anderes, das Frieden und Freude ahnen lässt, und das ist etwas von jenseits der 10 000 Dinge.

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Die Herde – Unlängst an den Almen meiner Heimat hatte ich die Muße, eine Schafherde zu beobachten, die geduldig und die ganze Zeit lang futterte, Gras, was die Wiesen eben hergeben; und ich hörte die ganze Zeit die Glöckchen, heller, dunkler, ein schönes Konzert, beruhigend für meine Ohren und auch für die Herde; die fühlt sich behütet durch den gewohnten Klang der Glöckchen neben dem fetten Gras für den Bauch …

Werden nicht auch wir Menschen ständig ruhig gestellt durch eine Unzahl von Bildern, von Glöckchen, Tönen, Melodien, feineren und gröberen? Ach ja, da ist wieder das Kino … Und an den Folgen unserer Unaufmerksamkeit dürfen wir lernen, im täglichen Lauf der Dinge.

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Der Mensch, der wirklich nach Wahrheit, nach Weisheit, nach Erleuchtung strebt, nach Glück und Frieden, der muss erstmal damit beginnen, aufzuräumen im eigenen Haus. Das eigene Haus, das liegt schnell auf der Hand, kann nichts anderes sein als unser eigenes Wesen. Das Motiv, aufzuräumen, nach Klarheit zu suchen, ist meist Enttäuschung. Wer nicht enttäuscht ist, der ist ja zufrieden. Wer zufrieden ist, hat momentanen Frieden in sich, und wer Frieden in sich hat, vielleicht sogar glücklich ist, der sieht doch keinen Grund, irgendeine Alternative zu suchen. Enttäuscht zu sein ist ein allerheilsamstes Ding. Es kommt auf jeden zu, irgendwann. Du kennst vielleicht den alten, aber durchaus nicht zu bekannten Lehrsatz: Von Enttäuschung zu Enttäuschung bis zum Ende der Täuschung. Erst wer enttäuscht wird in der Verfolgung seiner Ziele, wer enttäuscht ist von seiner Arbeit, seiner Religion, seinen Liebhabereien, seiner Kirche, seinen Beziehungen, mit einem Wort: enttäuscht ist von seinen Abgöttern, und wer diesen Schmerz der Sinnlosigkeit leidet, nur der hat Interesse daran zu suchen, eine Alternative zu suchen. Alter natus, wörtlich: erneut geboren.

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Wie eben festgestellt, wir leben in einer durchaus komplizierten Welt, die an die meisten von uns ziemlich straffe Forderungen stellt, vor allem seelisch. Die Zeit rast, und wir werden mitgeschleift vom Rad der Zeit, gleich einem Totentanz, wie wir ihn kennen von den Darstellungen auf alten Bildern. Und dann liegst du erschöpft da, beim Boxen sagt man: knocked-out. Der unparteiische Schiedsrichter steht daneben und zählt. Und wenn du Glück hast, kommst du nicht mehr auf die Beine und das Spiel ist mal fürs erste gelaufen. Der heutige Volksmund sagt dazu beispielsweise Burnout, was soviel heißt wie: Die alten Feuer können nicht mehr brennen. Du bist einfach ausgebrannt, weg vom Fenster, du kannst nicht mehr mit im endlosen Marathon des Lebens. Enttäuschung die nächste, richtig kräftig. – – – Nun  gibt’s einige Möglichkeiten. Die vielleicht dümmste ist, zu versuchen, sich aufzurappeln in ein paar Wochen oder Monaten, um sich dann wieder in die Schlacht der Nichtigkeiten zu werfen. Was folgen wird, weil es folgen muss, brauchen wir nicht zu erzählen. Jeder mit nur wenig Phantasie kann die Geschichte weiter spinnen.

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Du kannst das Ganze aber auch als Möglichkeit, als ungeahntes Geschenk nutzen: Denn wenn wir noch nicht ganz entsorgt werden müssen vom Leben, das heißt aus der Krise gelernt haben und nachzudenken beginnen, dann gibt es die Chance für Änderungen, für ein Erwachen des in uns verborgenen Kernes. Dieses für den Menschen im Allgemeinen unbegreifliche Geheimnis wartet schon viele Zeitalter darauf, dass wir ihm unsere Aufmerksamkeit  zuwenden. Und nun begegnen wir Bildern, alten oder neueren Texten, die unser Herz berühren, begegnen mehr oder weniger zufällig Menschen, die sich auch für einen spirituellen Weg interessieren. Dieses Interesse für die verborgenen Seiten des Lebens ist eines der wichtigsten Vorspiele, um aufzutauchen aus dem Labyrinth der Welt zum einzig Notwendigen – dem Weg des Lichtes, Via lucis.

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In dem Maße nun, wie wir bereit sind, einer inneren, stillen Ahnung – es ist die Sprache unserer Intuition – zu folgen, taucht der Weg in die Einheit auf. Es ist ein Weg des Feuers, ein Weg der Freude, auch ein Weg der Schmerzen; die können natürlich nicht ausbleiben, das liegt im Wesen der neuen Orientierung, wodurch uns die Ketten des Labyrinthes brennend bewusst werden. Aber wir beginnen auch, die Sprache dieser Schmerzen im Lichte der Vernunft zu verstehen – es sind nötige Schritte der Reinigung – die Seele beginnt genauer zu begreifen, wie ununterbrochene Aufmerksamkeit den täglichen Fragen und Herausforderungen gegenüber geboten ist.

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Und wieder einmal werden deine Gedanken zu dem Mann mit dem Stein gezogen, Sisyphus. Du siehst dich, wie du im Dunkeln immer und immer wieder in der alten Laufbahn rennst – auf Asche, wie in den alten Zeiten, keuchst, zusammenbrichst, aufstehst, weiter läufst, als ginge es ums nackte Überleben. Und dann kommen einige Traumbilder, Fetzen einer alten Ahnung vorbei – und es ist schlagartig klar, was du zu tun hast: Der Mann mit dem Stein bleibt, wo er ist – am Gipfel des Berges; er lässt den Stein herunter rollen, läuft ihm nicht mehr nach. Der Stein rollt und rollt und rollt, und irgendwann macht es einen lauten Krach, der Stein zerbricht, Sisyphus aber steht am Gipfel des Berges, sieht voller Glück und Freude, voll tiefem Einverständnis das Feuer seines eigenen Herzens. Und die alten Schlacken, es sind die Schmerzen einer vergehenden, chaotischen Welt, brennen und brennen im Hochofen, im Athanor seines Wesens. – – – Er erlebt den Tod des Sklaven, den die Vielfalt geknechtet hat, Jahrtausend um Jahrtausend. Das Wesentliche, das Beständige, das Gold der ewigen Werte, das Gewand des Phönix, des feurigen Vogels der Mysterien erhebt sich mit einem befreienden Lachen in die azurnen Himmel des Unendlichen, verbunden mit allen, verbunden mit dem Licht, verbunden mit der Natur. – – – Der Mann, der, wie so viele andere, unzählige Zeitalter unzählige Steine rollte, erwacht, ohne Stein – im flammenden Gewand hört er die Worte zu sich sprechen: Ein Mensch ist wahrlich auferstanden. Von nun an wisse es, du bist das Licht der Welt, du bist das Salz der Erde. Als er sich umsieht, wird er herzlich begrüßt, umarmt von vielen, die er irgendwie ahnungsvoll schon lange gekannt, doch sie waren vergessen im Dunkel der alten, einsamen, nun vergangenen Welt. Eine Stimme aus dem Licht hört er zu sich sprechen: Ein Same ist gesät ins Herz der Welt, es ist dein Herz, das Herz des Universums.

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Nun ist also all das verwirrend Komplizierte doch der notwendige Weg ins Einfache.

Der glimmende Funke des Geistes weckt die wahre, die klare Seele, das klare Denken. Die vernünftige Tat in Wohlwollen und Freude ist dessen Signatur. In der Kraft des Phönix, des Spirits-in-uns, wandelt und erhebt sich alles Komplizierte und wird zur Kunst des Einfachen.

Die 10 000 Dinge sind eingeschmolzen – Gold ist geworden in den Retorten …


Literatur:

J.A. Comenius:  Via Lucis, Das einzig Notwendige, Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens,

R.W.Trine: In Harmonie mit dem Unendlichen

 

 

 

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Datum: November 23, 2025
Autor: Klaus Bielau (Österreich)
Foto: film-Bild-von-Rudy-and-Peter-Skitterians-auf-Pixabay CC0

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