Die Natur zeigt uns ein wunderbares Bild der Einheit, in der alles an einem kosmischen Bauwerk mitarbeitet, von einem geistigen Band durchwoben und zusammengehalten.
Und dieses Ganze ist nicht statisch, sondern in Entwicklung; es entwickelt Bewusstsein und strebt damit dem Urgrund entgegen, dem es einst entsprossen ist. Durch die Arbeit der Weltenseele wird sich der Geist seiner selbst in der Form bewusst.
Was ist die Seele und wie sieht sie aus?
Der deutsche Arzt und Begründer der Zellularpathologie, Rudolf Virchow, wusste das ganz genau; sonst hätte er nicht mit solcher Bestimmtheit sagen können:
„Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.“
Nun, wer weiß, was er sich vorgestellt hat, wie die Seele aussehe. Seine Entdeckung hätte ihn aber auch zu der Frage führen können: „Ist meine Vorstellung von der Seele überhaupt richtig?“ Das wäre eine wissenschaftliche Herangehensweise. Vielleicht ist das der Grund, warum von naturwissenschaftlicher Seite so wenig – um nicht zu sagen: nichts – über die Seele zu hören ist. Es ist nicht Leugnung, wie Theologen und Esoteriker gerne unterstellen. Es ist Unfähigkeit – Unfähigkeit, die Seele positiv zu fassen und sie auf bestimmte Merkmale festzulegen.
Seriöse Wissenschaftler, denen ein Blick in das Geheimnis der Natur und des Lebens gewährt wurde, werden angesichts des gewaltigen Unnennbaren sehr bescheiden. So etwa der Quantenphysiker Niels Bohr, wenn er sagt:
Es ist falsch anzunehmen, dass es Aufgabe der Physik sei, herauszufinden wie die Natur ist. Physik interessiert sich für das, was wir über die Natur sagen können. [1]
Liegt darin eine Aufforderung, über das Sagbare hinauszugehen und sich vom Unsagbaren verzaubern zu lassen? Die Naturwissenschaft öffnet uns Fenster, durch die wir einen Blick auf die Natur werfen können. Hinsehen und deuten müssen wir selbst – dürfen wir selbst. Machen wir den Versuch:
Ein Blick auf die Natur
Grundlage der Quantenphysik ist eine schlichte Beobachtung: Jedes Objekt steht in Wechselwirkung mit seiner Umgebung. Wäre dies nicht so, niemand könnte von dem Objekt wissen. Darum sagt Carl Friedrich von Weizsäcker, dass es im Grunde nicht sinnvoll ist, von „isolierten“ Objekten zu sprechen.[2] Aus quantenphysikalischer Sicht bilden miteinander wechselwirkende Objekte gewissermaßen ein Gesamtobjekt, dessen Teile sie sind. Ihre Wechselwirkung ist somit die innere Dynamik des Gesamtobjekts. Die wechselwirkenden Objekte sind dann gleichsam im Gesamtobjekt untergegangen.[3]
Was so kompliziert klingt, wird an einem einfachen Beispiel leicht verständlich: Wasser besteht aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen (H2O), aber die Eigenschaften des Wassers lassen sich aus Sauerstoff und Wasserstoff gar nicht erklären.[4] Was wir als „Wasser“ bezeichnen, ist das Ergebnis der miteinander wechselwirkenden Objekte Sauerstoff und Wasserstoff, anders ausgedrückt, die innere Dynamik des Objekts Wasser, die Wechselwirkung oder Zusammenarbeit seiner Teile. „Wasser“ ist somit etwas über seine materielle Grundlage (Sauerstoff und Wasserstoff) Hinausgehendes und zeigt darum völlig andere Eigenschaften. Durch das Zusammenwirken der beiden Wasserstoffatome mit dem Sauerstoffatom erhält die geistige „Idee“ des „Wassers“ ein substanzielles Erscheinungsbild. Im Wassermolekül offenbart sich mithin eine Dreieinheit:
1. die geistige „Idee“ Wasser (im Sinne der platonischen Ideenlehre),
2. die materielle Substanz mit den Wasserstoff- und Sauerstoffatomen und
3. die lebendige innere Dynamik mit Kraft und Bewegung.
Die Wasserstoff- und Sauerstoffatome sind im Quantenobjekt Wasser „untergegangen“. Das heißt nicht, dass sie nicht mehr existierten; sie treten aktuell nur nicht als Sauerstoff oder Wasserstoff in Erscheinung. Sie „opfern“ ihr Sondersein, um eine, ihre atomare Seins-Wirklichkeit übersteigende, molekulare Existenz zu ermöglichen.
Entspricht dies nicht dem Zusammenwirken von Geist, Seele und Körper? Der Geist inspiriert die Seele, die mit der ihr eigenen Lebenskraft in der materiellen Substanz dem geistigen Impuls Ausdruck verleiht – hier als Eigenschaft des Wassers.
Dasselbe Prinzip gilt auch auf atomarer Ebene. Nehmen wir aus dem Wassermolekül das einfache Wasserstoffatom heraus, so sehen wir, wie sein Atomkern (hier ein einzelnes Proton) und das ihn umkreisende Elektron miteinander wechselwirken und dadurch dem Atom sein Ansehen und seine Eigenschaften geben. Das Proton seinerseits verdankt seine Existenz der Wechselwirkung von Quarks in seinem Inneren. Die „materielle“ Grundlage zieht sich somit immer weiter zurück, je tiefer wir schauen. Bildeten die Sauerstoff- und Wasserstoffatome die materielle Grundlage des Wassermoleküls, so wird die geistige Idee des Atoms durch das Zusammenwirken von Elektronen, Protonen und Neutronen verwirklicht, die die materielle Grundlage für das Atom bilden. Und in den Kernbausteinen zieht sich die materielle Basis auf die Quarks zurück. Diese Tatsache veranlasste den Physiker Max Planck in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises zu der Aussage:
Es gibt keine Materie an sich, alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zu dem winzigen Sonnensystem des Atoms zusammenhält. Da es im ganzen Weltall weder eine intelligente noch ewige abstrakte Kraft gibt, […] so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten, intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche […], sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre![5]
Wenden wir unseren Blick vom Kleinen ins Große, so finden wir dort dasselbe Prinzip. Moleküle bilden Zellen, Zellen Organe und Organe Lebewesen. Darüber hinaus kennt die Biologie Ökosysteme, die sich durch Rückkopplung im Gleichgewicht halten, so wie die Natur schlechthin. Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert allgemein im quantenphysikalischen Sinne:
Das Objekt wäre nicht Objekt in der Welt, wenn es nicht durch Wechselwirkung mit ihr verbunden wäre. Dann aber ist es strenggenommen gar kein Objekt mehr. Wenn es etwas geben könnte, was in Strenge ein quantentheoretisches Objekt sein könnte, dann allenfalls die ganze Welt.[6]
Ein Blick auf das Seelische
So zeigt uns die Natur ein wunderbares Bild der Einheit, in der alles an einem kosmischen Bauwerk mitarbeitet, von einem geistigen Band durchwoben und zusammengehalten. Und dieses Ganze ist nicht statisch, sondern in Entwicklung; es entwickelt Bewusstsein und strebt damit dem Urgrund entgegen, dem es einst entsprossen ist. Durch die Arbeit der Weltenseele wird sich der Geist seiner selbst in der Form bewusst. Eine zielgerichtete Entwicklung im Sinne einer Entfaltung, die in allen Dingen wirkt, durchwebt somit das ganze All. Aristoteles prägte dafür den Begriff der Entelechie,[7] deren Ruf im ganzen Universum widerhallt:
Werde, was du bist!
Aus diesem Panorama der kosmischen Einheit folgt aber auch: Nichts und niemand ist für sich selbst da. Ein jedes lebt aus der Gnade des Umfeldes und ist diesem im Gegenzug zum Dienst verpflichtet. Diese „Dienstpflicht“ kann im eigenen Wesen schon mal Dissonanzen wecken. Und wenn wir die esoterische Einheitsträumerei einmal beiseitelegen und uns ehrlich machen, dann müssen wir doch zugeben: Unsere Wirklichkeit entspricht nicht der skizzierten Welteinheit! Trennungsvorstellungen prägen unser Weltverständnis. Und diese haben die wundervolle Einheit in ein komplexes Chaos verkehrt. Der amerikanische Physiker David Bohm hat das Dilemma einer solchen Denkweise treffend formuliert:
„Wie schon gesagt, können aber Menschen, die sich von solch einem fragmentierten Selbst-Weltbild leiten lassen, auf lange Sicht nicht umhin zu versuchen, durch ihr Handeln sich selbst und die Welt in Stücke zu brechen, wie es ihrer gewohnten Denkweise entspricht. Da die Fragmentierung in erster Linie einen Versuch darstellt, das analytische Zergliedern der Welt in getrennte Teile über den angemessenen Bereich hinaus fortzuführen, so bedeutet dies eigentlich den Versuch zu teilen, was in Wirklichkeit unteilbar ist. Der nächste Schritt wird dann darin bestehen, daß wir zu vereinigen versuchen, was sich in Wirklichkeit nicht vereinigen lässt. […] Wahre Einheit im Einzelmenschen, zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch kann sich nur durch eine Form des Handelns bilden, die nicht darauf aus ist, die Ganzheit der Realität zu zerstören. […] Wie gesagt, wir versuchen zu teilen, was eins und unteilbar ist, und dies hat im nächsten Schritt zur Folge, dass wir versuchen, gleichzusetzen, was verschieden ist.
Die Fragmentierung ist also ihrem Wesen nach eine Verwirrung angesichts der Frage, was verschieden und was zusammengehörig (oder eins) ist, aber das klare Erfassen dieser Kategorien ist in jeder Lebensphase notwendig. Wer das, was verschieden ist und was nicht, durcheinanderbringt, bringt alles durcheinander. Daher ist es kein Zufall, wenn unsere fragmentierende Denkweise ein derart breites Spektrum von Krisen hervorbringt: soziale, politische, ökonomische, ökologische, psychologische usw., und dies sowohl im einzelnen wie in der Gesellschaft im Ganzen.“ [8]
Wenn gemeinhin diagnostiziert wird: „Ursache der weltweiten Krisen ist der Egoismus der Menschen“, dann ist das sicherlich vollkommen richtig. Nun lässt sich aber die Egozentrik nicht einfach durch ein projektiertes Gutmenschentum ersetzen. Diesbezüglich hat es an Versuchen sicher nicht gefehlt. Es gibt viele Menschen, die sich aufopferungsvoll in Organisationen engagieren, seien dies Familie, Firma, Staat oder Gesellschaft. Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir als Egozentriker nicht notwendig böse, rücksichtslos oder unsozial sind. Wir können sogar ausgesprochen kultiviert und humanistisch sein. Allein wir sind es nach unseren Ideal-Vorstellungen. Andere Menschen haben andere Vorstellungen, und wenn nicht vom Ideal, so doch von der Art und Weise, wie dieses zu verwirklichen sei. Das also ist es, was uns zum steinharten Egoisten macht. Unsere auf dieser Basis gegründeten Organisationen zeigen natürlich den gleichen Charakter, und darum dürfen wir von führenden Stellen in Staat und Wirtschaft keine systemischen Lösungen erwarten.
Wir werden darum nicht umhinkommen, unsere Verwirrungen selbst aufzulösen. Die Natur hilft uns dabei, denn die falschen Vorstellungen des Sonderseins binden als unterbewusste Blockaden und Komplexe psychische Energie, wie der Psychologe C. G. Jung feststellt. Die durch unser Trennungsdenken auseinandergerissenen Teile streben von Natur aus zur Wiedervereinigung. Darum sind wir gezwungen, wenn wir unsere Suggestion der Trennung aufrechterhalten wollen, beständig Energie, psychische Energie aufzuwenden. Wir leben also in einer selbst erzeugten emotionalen Gegensatzspannung. Diese Spannung strebt zum Ausgleich – zur Aufhebung der Trennung. Es ist eine Naturkraft und darum mit verstandesmäßigen Überlegungen nur bedingt zu steuern.[9] Jung bezeichnet den sich hier Bahn brechenden psychischen Prozess als Individuationsprozess (Werde, was du bist!). Denn am Ende dieses Prozesses erreicht das Bewusstsein schließlich, im Zustand vollkommener Gelöstheit, das wirkliche Seelenzentrum, das Jung als „Nicht-Ich-Zentrum“ charakterisiert.[10] Dieses Nicht-Ich-Zentrum ist somit jener Punkt innerhalb der menschlichen Psyche, der mit der Einheit, der Einheit der Natur korrespondiert. Es ist sozusagen der Anknüpfungspunkt des Geistes, des Einen Geistes.
Diese Grundprinzipien sind der Seele durch diverse archetypische Bilder eingeprägt. So nehmen christliche Begrifflichkeiten wie das „Samenkorn Christi“ oder der „eingeborene Sohn“ Bezug auf den Archetypus der in den Leib eingeschlossenen Seele, der sich schon in Platons Phaidros findet.[11] Nach eingehender Untersuchung der archetypischen Symbolik der Alchemie kommt C. G. Jung zu dem überraschenden Schluss, dass die damaligen Alchemisten tatsächlich beabsichtigten, einen verklärten Auferstehungsleib herzustellen, einen Körper, der zugleich Geist ist.[12] Schon die Hermetik zu Beginn unserer Zeitrechnung sah in der Materie einen Geist verborgen, der auf Erlösung harrt. Es ist der „Geistfunke“ in uns, der an die Seele appelliert, sich ihm anzuvertrauen, auf dass er sie – wie die Raupe in der Puppe – umwandle zu einer auf die Ebene der Einheit abgestimmten Seele. Dies ist die Vereinigung von Körper, Seele und Geist, zu der der Mensch gerufen ist.
In diesem Sinne lehrte Hegel seine Studenten:
Unsere Sache ist es, der Erlösung uns dadurch teilhaftig zu machen, dass wir von unserer unmittelbaren Subjektivität ablassen (den alten Adam ausziehen) und uns Gottes als unseres wahren und wesentlichen Selbst bewusst werden. [13] [14]
Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen. [15]
[1] Bohr, Niels zitiert nach Arendes, Lothar: Das Realismusproblem in der Quantenmechanik, S. 24
[2] Weizsäcker, Carl Friedrich von: Die Einheit der Natur, S. 164
[3] Ebd., S. 485
[4] nach B. Russell in: Vollmer, Gerhard: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 82
[5] Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 11 Planck, Nr. 1797.
[6] Ebd., S. 486.
[7] Aristoteles: Metaphysik, IX, 8
[8] Bohm, David: Fragmentierung und Ganzheit. In: David Bohm: Die implizite Ordnung – Grundlagen eines dynamischen Holismus, S. 36/37.
[9] Jung, Carl Gustav: Über die Psychologie des Unbewussten, Abs. 77 – 78.
[10] Jung, Carl Gustav: Über Grundlagen der analytischen Psychologie – Die Tavistock Lectures 1935, Abs. 379.
[11] Platon: Phaidros, Rn. 250.
[12] Jung, Carl Gustav: Psychologie und Alchemie, Abs. 511.
[13] Hegel: Kleine Logik in: Enzyklopädie Band 1 § 194, Zusatz 1
[14] Vgl. 1.Kor. 15,45
[15] Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Teil II, Kap. III, I, 2a: Begriff des Absoluten als der Liebe
