Kairos – oder die Kunst des richtigen Moments in den vielen Falten der Zeit

Kairos – oder die Kunst des richtigen Moments in den vielen Falten der Zeit

In der Vielfalt der Möglichkeiten das Eine, Stimmige, Schöne, Gerechte und Gute zu denken und zu tun und zu fühlen, ist eine Kunst, in der wir uns wohl alle üben.

Es geht darum, den richtigen Moment der Ewigkeit beim Schopf zu packen – in einem tanzenden Universum. Mit Kairos entsteigen wir, hinaus aus der gemaßregelten Zeit in die unermessliche Zeitenfülle des Universums.

Jedoch steht Chronos-Saturn an der Schwelle, der uns verschlingt, wenn wir seine Chronologie nicht beachten und zur falschen Zeit, am falschen Ort das Falsche tun, oder das Richtige am falschen Ort, oder am richtigen Ort das Falsche. Falsch erscheint mir schon der Begriff „falsch“. Das kann ich aber nicht mal denken, ohne den Begriff selbst zu benutzen. Kann man sich den Göttern durch Denken nähern? Können Denken und Sprache, können Worte Lebenswirksamkeit erzeugen? Welches Wort war am Anfang? Wir sind immer noch auf dem Weg in die Zeit, in die Vielfalt, wohl mit etlichen Zwischenaufhenthalten auf dem Turm von Babel.

Kairos und Chronos sind die Götter der Zeit. Chronos ist die Zeit, die wir messen können, während sie vergeht. Dabei wird unsere ganze Chronologie der Inkarnationen in unseren Körper, in unsere Gene, in unser Blut und Hirn geprägt. Da  wir das meiste davon vergessen, erscheint es uns als Schicksal oder Hüter der Schwellen. Kairos ist die ursprüngliche Zeit, die ewig ist. Er wird zum Tor in unserem Herzen, wenn wir mit der hingebungs- und machtvollen und liebevollen Tat das „Sesam öffne dich“ sprechen.

So nähere ich mich an diesem strahlenden Morgen, im Frühverkehr, unaufhaltsam meinem Schicksal, was momentan Zahnarzt bedeutet. Es könnte etwas anderes sein, mein Schicksal. Ich denke an die vielen Schicksale, die sich im selben Moment auf der Welt erfüllen: der Beginn eines entscheidenden Arbeitstages, die Begegnung mit lieben Kollegen oder gestressten Kollegen, eine OP in einem Krankenhaus, die Geburt eines Kindes, der Beginn einer neuen Liebe, die Explosion einer Bombe, der erste Schultag, die Angst vor anderen Kindern. Ich spüre gerade ein bisschen Angst um meine Zähne. Dann öffnet sich wie in einem Korridor mein Blick auf meine eigenen Schicksalsschläge und Problemchen. Einige knirschen wie Sand auf den Zähnen, einige pochen dunkel irgendwo im Körper, andere lassen mich erröten, andere leuchten wie Sterne am Himmel, wie strahlende Blumenwiesen oder kleine unendlich heiße Sonnenkügelchen in meinem Herzen.

Schicksalsschläge? Den Zahnarzt habe ich mir selbst eingebrockt. Gibt es etwas, das ich mir nicht selbst eingebrockt hätte? Bei der Wahl meines Geburtsortes oder den steuerlichen Verpflichtungen bin ich nicht so sicher. Außerdem habe ich gewisse Ungerechtigkeiten erlebt. Oder mein Körper – bin ich das?

In der Vielfalt der Möglichkeiten das Eine, Stimmige, Schöne, Gerechte und Gute zu denken und zu tun und zu fühlen ist eine Kunst, in der wir uns wohl alle üben. Vielfältig sind die Aspekte, die wir einbeziehen müssen. Eine optimale Strategie habe ich dafür noch nicht gefunden. Um einen Überblick zu bekommen, scheint mir das Abhaken erfolgloser Strategien immerhin sinnvoll, weshalb ich hier einige anspreche, darunter auch Erfolg versprechende:

Das Hamsterrad: es bedeutet mehr zu haben, zu sehen, zu wollen und zu tun, und zu diesem Zweck sich auf einen bestimmten Bereich zu beschränken, zu spezialisieren. Als Lohn dafür winken Lob und Anerkennung einer Leistungsgesellschaft, eventuell Wohlstand und Selbstbestätigung.

Das Uhrwerk: Kontrolle und Perfektionismus. Im Bestreben, gut zu sein, überprüfe ich und plane ich mein Leben und das meiner Angehörigen. Als Belohnung erhalte ich dasselbe wie mit dem Hamsterrad und noch eventuell Macht dazu.

Kämpfen: Für etwas oder gegen etwas. Daraus entstehen zum Beispiel Kunst, Krieg oder Selbstbeherrschung. Wir können Hindernisse überwinden, unsere Familie materiell und geistig ernähren, die Welt fruchtbar und strahlend werden lassen, wenn wir achtsam mit dem Leben umgehen.

Das Fähnchen im Wind: Vielleicht will ich es allen recht machen, Konflikte und Schmerz vermeiden. Vielleicht die Menschen, lieben, Wahrheit und Liebe suchen, alles ausprobieren, um diese zu verwirklichen. Vielleicht ist es Flucht. Der Lohn ist Flexibilität, Verständnis für andere Menschen, Toleranz, eventuell Vielseitigkeit, eventuell Flüchtigkeit.

Die Auster: Sie umfängt das störende Sandkorn mit Liebe und Fürsorge, bis es eine Perle wird. Sie hat eine harte Schale und ein sanftes Herz. Wer kennt ihren Lohn? Vielleicht Sanftmut, Schönheit, oder etwas Verborgenes.

Transhumanismus, Schönheits-OP, Kultur, Konsum und Technik, etc.: Ich will über das Menschliche hinaus, denn ich kann mir Schöneres vorstellen als das, was ich im Moment bin und was die anderen sind. Das Absolute, Schöpferische, Wunderbare erscheint mir, oder meiner verborgenen Seele, als Wirklichkeit. Ich bin Mann und Frau, wunderbar wie ein Engel und dies versuche ich mit allen Mitteln im Leben zu manifestieren.

Wanja: Der Held des russischen Märchens schläft sieben Jahre lang hinter dem Ofen, während seine Brüder die ganze Arbeit erledigen. Es bleibt seiner Wirklichkeit treu und nach sieben Jahren, als sein Moment, sein Kairos erscheint, rettet er die Situation für alle. Hier heißt es, nicht einzuschlafen oder einzurosten, die Hitze und an den Einzelgänger gerichtete Kritik zu ertragen, und wachsam von jedem Augenblick zu lernen.

Der Derwisch ist in seinem Ich gestorben, leer und offen für das Leben geworden, gleichzeitig Zentrum und Vielfalt. Sterne, Welten, Menschen und Farben, Musik und Gedanken, strahlende, bunte, liebevolle Universen sieht er mit seinen offenen Augen kreisen.

Wir können in uns einen Schalter umlegen, um von der einen in die andere Zeit zu gelangen. Der Schalter ist, wie bei einem komplexen Roboter, in unseren Hirnzellen, im Blut, in den Genen verkabelt. Die Gebrauchsanweisung besitzen wir, jeder für sich selbst und sie ist so geschrieben, dass wir sie verstehen können. Im System liegt auch ein mehr oder weniger großes Quäntchen absoluter Freiheit verborgen. Sieben Welten müssen wir bereisen, sieben Brücken überqueren und sieben Fesseln entbinden, bevor wir frei den Weg der Sterne gehen können, so steht es geschrieben.

Annehmen, erkennen was ist und in Freiheit lieben wäre ein gutes Rezept. Wenn ich etwas annehme, erkenne ich es, liebe ich es. Oft jedoch will ich das Geliebte behalten, dann lehne ich das Gegenteil ab, dann bremse ich den Lauf der Zeit, das Zirkulieren der Gegensätze und der Sterne, es entsteht so etwas wie ein Sandkorn im Getriebe, im Uhrwerk des Chronos. Es gibt keine Lösung, meine Augen sind vorne am Kopf, ich sehe immer nur eine Seite der Münze, oder gar nur die Kante, falls ich versuche, gerecht zu sein.

Die Frage ist, wie ich mit der Vielfalt, in den vielen Falten der Zeit, umgehe. Ich brauche Zeit dazu. Chronos und Kairos sind unsere Hüter. Die Zeit wurde uns geschenkt, damit wir die Vielfalt zum Blühen bringen.

Chronos schreibt in mir, in der Welt, in der Zeit, unzählige Geschichten. Was wollen sie? Was will ich damit? Hinaus ins Leben, in die Freiheit, in die Fülle, mit dem Herzen, mit den Flügeln des Herzens und der Lunge, den Füßen und in den Händen halte ich die Waage, meine Augen sehen die Polaritäten und begleiten sie achtsam und wachsam. Während mein Geist den richtigen Moment der Ewigkeit beim Schopf packt, im tanzenden Universum.

Kairos sei mit uns.

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Datum: November 16, 2025
Autor: Catherine Spiller (Germany)
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