Derjenige, in dem Tao wirkt, weiß um die Einheit aller Dinge in Tao. In seinem Innern erlebt er, dass das wahrgenommene fragmentierte Leben in Wirklichkeit eine Einheit ist.
Er lässt die Situationen in ganzer Schärfe und so vollständig wie möglich auf sich wirken und gibt ihnen in seinem Herzen Raum für ein Heilsein in Tao.
Die alten taostischen Weisen machten einen deutlichen Unterschied zwischen dem alltäglichen Bewusstsein des Menschen und einem Bewusstsein, das von Tao erfüllt ist. Sie kannten ein einfaches, aber sehr eindrückliches Bild:
Ein Kranich fliegt über den Weiher. In einem kleinen Augenblick spiegelt sich der Kranich vollständig in seiner ganzen Pracht im Wasser.
Hier wird ein ganz besonderer Zustand des Herzens beschrieben. Die Taoisten gingen davon aus, dass der gewöhnliche Mensch in seiner Mitte besetzt ist. Das bedeutet, dass sein Herzzentrum nicht frei ist für das Wirken von Tao. Das Herz ist gefüllt mit Begierden, Zielen, Gewohnheiten und Vorstellungen.
Wenn ein Mensch jedoch eine freie, das heißt offene, empfangsbreite Mitte hat, in der keinerlei Willenswirksamkeit stattfindet, kann sich die im Moment vorhandene Lebenssituation in Tao spiegeln. Dies kann prinzipiell in einem Moment der inneren Einkehr und selbstlosen Hingabe an Tao geschehen. Das persönliche Wünschen und Wollen tritt zur Seite und überlässt einer sehr viel größeren Wirksamkeit den inneren Raum. Der Kranich spiegelt sich im Weiher.
Der Kranich – so könnte man das Bild deuten – steht für das ganze Leben, für seine Einheit in Tao. In manchen Augenblicken sehen wir sie klar, und dann verschmilzt die ganze Vielfalt einer Situation mit ihren Problemstellungen, Beziehungen und Verflechtungen zu einer einzigen Wahrnehmung, zu einem Ein-Druck in der Stille des Herzens. Das Unvollkommene hat sich in Tao gespiegelt, wurde durch Tao erkennbar, war in Tao aufgehoben. Dadurch wurde Tao in eine wirksame Aktivität gebracht. Womöglich enststanden daraufhin neue Gedanken und Empfindungen, in einer scheinbar ausweglosen Situation tat sich plötzlich eine Lösung auf, ein Buch oder eine Textstelle gab uns einen entscheidenden Hinweis oder eine unerwartete Begegnung fand statt. Es kann auch sein, dass eine ungeahnte Kraft oder eine Heiterkeit fei wurde, eine schicksalhafte Situation anzunehmen wie sie ist.
Normalerweise versucht der Mensch in einer Situation, sei sie schwierig oder angenehm, sofort irgendetwas damit zu machen. Er will sie nach seinen Vorstellungen und seinem Willen formen, verändern oder einordnen. Meist will er etwas loswerden oder an etwas festhalten.
Derjenige, in dem Tao wirkt, tut hingegen zunächst einmal nichts. Er steht im Wu Wei, praktiziert das Nicht-Tun. Er greift nicht ein auf der Ebene der „zehntausend Dinge“, wie Lao-tse es nennt. Er will den Vogel weder fangen, vertreiben, noch mit einem Spiegel oder einer Kamera hinter ihm herlaufen. Vielmehr lässt er den „Kranich fliegen“ und nimmt keinerlei Wertungen vor bezüglich irgendwelcher Aspekte seines Verhaltens. Er nimmt seinen eigenen Willen völlig heraus aus der Situation und lässt geschehen, was geschieht.
Ein solcher Mensch nimmt nichts weg und fügt nichts hinzu. Er weiß um die Einheit in Tao. In seinem Innern erlebt er, dass das wahrgenommene fragmentierte Leben in Wirklichkeit eine Einheit ist. Er lässt die Situation in ganzer Schärfe und so vollständig wie möglich auf sich wirken und gibt ihr in seinem Herzen Raum für ein Heilsein in Tao. Er lässt dabei die tiefe Sehnsucht nach der heilenden Verbindung mit Tao in seine erlebte Realität hineinströmen.
Diese Haltung des Geschehen-lassens, die auf der Bereitschaft basiert, dem Lauf der Dinge keinen Widerstand entgegenzusetzen wird in der chinesischen Literatur durch ein weiteres Bild ausgedrückt: Die Kiefer und die Weide im Schnee. Der Ast der Kiefer ist starr und bricht unter der Last, während der Ast der Weide dem Gewicht nachgibt und der Schnee dabei abgleitet. Die Kiefer steht für das gewöhnliche anhaftende Bewusstsein, das mit Gegendruck und Kampf arbeitet. Die Weide kann hingegen nachgeben und sich flexibel anpassen. Sie steht für den Menschen des Tao, der so neutral und objektiv wie möglich auf sich und sein Leben schaut. Er lässt es zu, dass die Dinge sich im Schauen aus dem inneren Wesensgrund heraus entfalten und zeigen können.
Er nimmt scheinbare Niederlagen genauso an wie Erfolge. Denn er weiß, dass die beiden Pole zusammengehören. Yin und Yang bedingen sich gegenseitig. Da er sich verbunden weiß mit der Einheit Taos, lebt er die Freude des inneren Ungebunden-seins – was auch im äußeren Leben geschehen mag.
Doch dieses innere Handeln durch „Nicht-Eingreifen“ fühlt sich nicht unbedingt erhaben oder stark an. Oft werden gerade dadurch Ängste, Trauer, Wut und die eigene Unzulänglichkeit spürbar. Doch gerade in der empfundenen Ohnmacht und im Erkennen der eigenen Kleinheit kann die Ergebung gegenüber der Weisheit und Kraft Taos stattfinden. Nun können die Kräfte Taos fließen. Eine Verschiebung des inneren Handlungszentrums vom Ich zu Tao findet statt.
Der Wille und die Intelligenz Taos lassen die mögliche Lösung aufleuchten. Und nicht nur das. Im Herzen des Menschen, in dem Tao wirkt, gehen die Dinge eine Wiederverbindung ein mit ihrem ureigenen inneren Quell. Der Impuls zu einer tiefen inneren Verwandlung kann wirksam werden. Daher waren die Taoisten im alten China bekannt dafür, besonders heiter und ge-lassen zu sein. Sie nahmen sich selbst nicht allzu ernst, sie ließen sich und ihre Anhaftungen los.
Wu-Wei heißt allerdings nicht, dass man sich nur zurücklehnt und denkt, Tao wird es schon richten. Natürlich ist in der „Welt der zehntausend Dinge“ auch äußeres Handeln gefragt. Es ist jedoch abgestimmt auf den höheren Lebenssinn, auf die Impulse Taos. Es ist die Kunst, im richtigen Moment am richtigen Ort das Richtige zu tun. Dies kann nicht gewollt oder erzwungen werden. Vielmehr passiert es einfach, wenn der Mensch im „Mitbewegen“ mit der freien Mitte steht.
Tao als Schöpfer allen Lebens und die konkrete Lebenssituation berühren sich. Die unergründliche Tiefe des Seins, der Schöpfer, der Ursprung begegnet der Schöpfung, der Manifestation im menschlichen Herzen. Ein Verschmelzen findet statt, ein Erwachen aneinander. Der Sinn leuchtet auf, starke transformative und evolutive Impulse werden ausgelöst, die für den Einzelnen wie auch für die Menschheit und die Natur insgesamt bedeutsam sind.
Unser alltägliches Bewusstsein gleicht einem Weiher voll unruhigen Wassers. Es kann den Kranich nur zerstückelt und als „zehntausend Dinge“ widergeben. Hier finden wir keinen Frieden, kein tieferes Verstehen von Zusammenhängen, keine Einheit.
Der Weg zur Einheit ist der Weg des Herzens. Unsere besetzte Mitte für diesen Weg frei zu machen, bedeutet Menschsein.
„Schaffe Leere bis zum Höchsten!
Wahre die Stille bis zum Völligsten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue wie sie sich wenden.
Die Dinge in ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.“Laotse, Tao te king, Kap. 16
