Im Menschen liegt der Anfang und das Ziel des geistigen Strebens, er ist das Alpha und das Omega
Was fühlt die Seele?
Eine tiefe innere Verbindung mit allem.
Eine Erfahrung von Verwandtschaft.
Ein Band der Schöpferliebe.
Ein Band, das nicht bindet.
Ein Band, das die Geschichte der Schöpfung erzählt.
Wie nimmt die Seele wahr?
Zunächst einmal ist die Seele ein großes Ohr und auch du kannst ihre Stimme hören. Sie empfängt die Strahlung und sie schwingt auch selbst, wie das Anschlagen einer gespannten Saite. Vielleicht eine der Saiten des Monochords, der Pan-Harmonie aller Sphären. Jedes Beben und jede Bewegung manifestiert sich synchron in der Weltseele. Das Ohr der Seele öffnet sich allmählich, das Ohr spiralförmig wie ein Schneckenhaus, perlend. Das Ohr der Seele spricht auch und bringt weise Ratschläge.
Zweitens ist die Seele ein Auge, das dir verschiedene Perspektiven der Wahrnehmung gibt. Was die Seele sieht, weiß sie und vieles mehr ahnt sie. Im Seelenlicht erkennen wir die Geister, und alle Wahrheiten und Lügen werden in ihm offenbart. Es zeigt unbestechlich das Wesen der Dinge. Sehen ist Wissen. Schauen bringt Wissen. Das Sehen erhascht Blicke im Augenwinkel wie Bilder der Prophezeiung. Es ist keine Prophezeiung der Zukunft, denn die geistige Seele ist jenseits von Zeit und Raum. Es sind Blicke und Vorstellungen von der Ewigkeit.
Drittens erfährt die Seele eine Berührung mit der geistigen Energie des Vaterlandes. Sie ergreift die Hand und bittet darum, mit den Kraftlinien des Geistes zu tanzen. Wenn du dich auf diesen Walzer einlässt, wird sie dich führen, bis du loslässt. Plötzlich, nach langer Zeit, erinnert Sie sich an die Schritte und empfindet die Gewissheit seiner Führung, dass Sie nichts falsch machen kann. Es ist sein Blut, das bereits in dir fließt. Es ist um Sie herum und in Ihnen, während der Geist Fleisch wird.
Viertens, wenn die Seele die neue Atmosphäre spürt, atmet sie. Mit jedem Atemzug lässt sie die Äther der Freiheit und der Befreiung von der alten Natur einströmen. Wenn wir mit dem Atem in Not sind, hat die Seele weit geöffnete Lungen, durch die eine reine und reinigende Brise strömt. Der Atem der Seele ist eins mit dem Atem des Logos, ein und aus. Dem zarten, süßen Duft der Rosen kann man nicht widerstehen. Wie mütterlich und gütig er ist. Der Rosenduft wird von befreiten Geistseelen als Ausatmung an die ganze Welt abgegeben. Er ist die heilende Atmosphäre dieses einen höheren Gutes.
Die beteiligten Seelen werden von den neuen Äthern genährt und erhalten das Brot und den Wein des neuen Bundes. Jeder Pilger, der nach dem göttlichen Manna dürstet und hungert, wird gesättigt werden. Wer hat diesen großen Mangel und diese große Not schon erlebt? Der unstillbare Durst wird nur gestillt. So bleibt die Seele offen, gespannt und entschlossen, weiterzugehen.
Die sechste bewusste Seele denkt und kann das Wort des Anfangs aussprechen, weil sie mit dem schöpferischen Wort verbunden ist. Ein neuer Bewusstseinsfokus ist geschaffen worden, der auf neue Weise denkt. Für die Geistseele wird ein neues Sinnesorgan geschaffen, durch das sie eine neue Wirklichkeit, eine andere Dimension wahrnehmen kann. Sie kommt in ihrem Boot in Caphar Salama an, dem Dorf des Friedens, der Insel des Geistes[1].
Die vom Geist besessene Seele kommt als neuer Mensch, als Geistseele, an. Er wird wieder der ursprüngliche Adam.
Im Menschen ist der Anfang und das Ziel des geistigen Strebens, er ist das Alpha und das Omega.
Die Organe der neuen Seele haben ihre Wahrnehmungen und vermiteln neue Erfahrungen. Mit Hilfe dieser Organe wird die Seele erkannt und die Seele erkennt vieles aus dem geistigen Plan. Sie schaut die Analogien und erkennt die Entsprechungen. Sie erlebt die Schöpfung selbst, Tag für Tag, bis zur Vollendung, consummatum est.
Die neuen Organe sind dann in der Lage, auf die ursprünglichen Elemente zu reagieren und mit ihnen zu arbeiten, wie Feuer: schöpferische Kraft (fiat), Luft: schöpferische Idee (logos), Wasser: schöpferisches Leben (maria – Mutter – Matrix), Erde: schöpferischer Kosmos – Mikrokosmos – Mensch – Geistseele.
Aus den Gedanken anderer zur Wahrnehmung
Alles, was wir über die Wahrnehmung der Seele schreiben können, sind nur Bilder des Unbeschreiblichen. Und doch ist es ein so verbreitetes Thema in spirituellen Texten, weil wir ständig versuchen, es zu erreichen. Von den Gedanken anderer Autoren über die Wahrnehmung der neuen Seele können zumindest einige aus einer großen Zahl genannt werden.
Die Verwandlung der Sinnesorgane auf dem spirituellen Weg ist das Thema von Jan van Rijckenborgh (1896-1968) in „Es gibt keinen leeren Raum.2 Er betrachtet die verborgenen Geheimnisse, die sich demjenigen offenbaren, der „[…] das Verborgene sieht, es erkennt und es zu hören wünscht. Denn wer sieht, erkennt und hört, kann auch antworten.“[3] Weiter führt er aus: „[…] das Auge dient als Beleuchter des Lichts oder als Stimulans für bereits brennendes Licht. Was der Mensch in seinem Innersten hat, wird durch das Auge gesucht und angezogen. Es wird als geistiger Sauerstoff für bestimmte Bedürfnisse des Lichts eingeatmet.“ Und er schließt seine Überlegungen mit den Worten: „[…] das enthüllende Licht fordert die gewohnten starren Denkweisen heraus, und alles Leben der Gefühle und des Verlangens wird umgeworfen. Der ganze Naturzustand beginnt allein dadurch zusammenzubrechen, dass der Mensch etwas von dem Geist, der sich über die Menschheit ergießt, zu verstehen und zu sehen beginnt.“[4]
Marsilio Ficino (1433-1499) stellt in „Über das Licht“ die Analogie der Augen als ausstrahlende Sehstrahlen vor:
„Das Licht ist das Lachen der himmlischen Geister, die sich erheben, wie es sich besonders bei den Menschen zeigt, die, wenn sie sich im Geiste freuen und ein Lächeln auf dem Gesicht haben, gewiss auch innerlich leuchten, und ihr Geist dehnt sich aus, und ihr Gesicht und besonders ihre Augen, die höchst himmlisch sind, scheinen zu leuchten, und wenn sie lachen, kreisen sie wie Himmelskörper. […] Die Strahlen der lachenden Sterne sind wie die Augen der göttlichen Geister höchst wohlwollend und freudig, sie zielen auf die Samen der Dinge und erwärmen und bringen alles in die Welt […]“[5]
Zum Schluss sei noch ein Gedanke aus dem Evangelium der Wahrheit erwähnt:
„Denn die Söhne des Vaters sind sein Wohlgeruch, wenn sie von der Gunst seines Antlitzes kommen. Deshalb liebt der Vater seinen Wohlgeruch und verströmt ihn überall. Wenn er sich mit der Substanz vermischt, dann gibt er dem Licht seinen Wohlgeruch; und in seiner Ruhe bewirkt er, dass es über jede Form und jeden Klang erhaben ist. Denn der Duft wird nicht von den Ohren aufgenommen, sondern vom Geist angezogen, und er haucht ihn sich selbst ein: Er taucht in den Duft des Vaters ein. So begleitet er ihn zum Hafen und setzt ihn an den Ort, von dem er kam: zum Urduft […]“[6]
[1] Andreae, Johann Valentin: Christianopolis. Prag: Trigon, 2017, S. 64-65. Der Fremde konnte die Insel u.a. nur mit einem „scharfsinnigen Auge“ sehen. Rijckenborgh, Jan van: Christianopolis. Haarlem: Rozekruis Pers, 1990, S. 25ff.
[2] Rijckenborgh, Jan van: Es gibt keinen leeren Raum. Prag: Lectorium Rosicrucianum, 2001, S. 49-52 – Kapitel Linker und Rechter Weg.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Ficino, Marsilio: Über die Sonne. Über das Licht. (De Sole. De lumine) Prag: OIKOYMENH, 2017, S. 171; Kapitel 8 Das Lachen des Himmels, das von der Freude der Götter ausgeht, oder das Licht wärmt und erfreut alles.
[6] Kratochvíl, Zdeněk: Hermann a synové, 1994, S. 47, Absätze 34,1; 34,5; 34,10 und 34,15. Der Text des Evangeliums der Wahrheit ist im Ersten Codex von Henoboskia, einer der Handschriften von Nag Hammadi, enthalten. Zdeněk Kratochvíl übersetzte aus der polnischen Übersetzung: Myszor, Wincenty: Texte aus Nag-Hammadi, tlum. Albertyna Demska und W. Myszor, Warschau 1979.