Gewohnheitstier oder Wundernase?

Gewohnheitstier oder Wundernase?

Am Anfang war der Baum des Lebens, dann kam der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.

 

Wundernase[1] ist ein schweizerdeutscher Begriff, der eine neugierige Person bezeichnet und freundlicherweise nicht auf Gier, sondern auf Wunder baut. Beginnen wir mit dem Wunder, denn am Anfang war das Wunder, dann kam die Wissenschaft.

Das Baby in den liebenden Armen der Mutter staunt in die Welt hinein, es wächst in der Wärme ihrer starken Arme und spiegelt die lächelnde Mutterliebe. Davon lebt die Welt und Maria wird die Mutter Gottes genannt. Am Anfang ist die Mutterliebe und das Spiegelbild ihres Lächelns im Kindergesicht. Die Blumen haben das Lächeln bewahrt.

Wie die Prinzessin im Märchen „Der Froschkönig“ spielten wir im königlichen Garten mit der goldenen Kugel des Geistes, bis diese in einen dunklen Brunnen fiel. Die Seelenkraft verliert sich in den Tiefen des Universums. Ein Frosch erschien, als wir die Verbindung mit dem Geist verloren hatten. Er brachte uns die Kugel zurück, allerdings nur, weil wir ihm versprachen, ihn an unserem Tisch sitzen und aus unserem goldenen Tellerchen essen zu lassen. Vielleicht erinnern Sie sich nicht, dies so erlebt zu haben, und trotzdem geht es Ihnen manchmal so, dass Sie es mit einem Frosch zu tun haben, mit „froschigen“ Situationen, die Ihnen fremd, unangenehm, eklig, aufdringlich, als Störung erscheinen.

Die Prinzessin weigerte sich, ihr Versprechen einzulösen, ihr Vater jedoch erinnerte sie an ihre Pflicht. So geschah es, dass der Frosch im Bett der Prinzessin landete, worauf sie ihn an die Wand schleuderte, mit dem Ergebnis, dass er sich in einen Prinzen verwandelte.

Denn wir wissen nicht, was wir tun

Daniel Kahneman[2] hat in seinem demaskierenden Buch, „Schnelles Denken, langsames Denken“ wissenschaftliche Experimente zusammengetragen, die illustrieren, wie unser „automatisches Denken“ inkognito die meisten unserer Entscheidungen trifft und wie unser „rationales Denken“ sich meist im Rahmen dieses automatischen, instinktiven Denkens bewegt. Er verwendet den Begriff System 1 für „automatisches Denken“ und System 2 für „das willentliche System“.  Die Kompetenz von System 1 beruht auf subjektiven Erfahrungen, Gewohnheiten, selektiver Wahrnehmung, Konditionierungen, sowie genetischen und sozialen Prägungen. System 1 produziert instinktive Reaktionen und Urteile blitzschnell mit Hilfe des Stammhirns und des limbischen Systems, ohne dass der Neocortex dafür bemüht werden müsste, was diesem aus Bequemlichkeit oder Überforderung meist gelegen kommt. Katzen können Mäuse jagen, ohne dass ihnen dies jemand erklärt.

Unser System 1 denkt sozusagen mit der „Schrotflinte“. Es glaubt, was oft wiederholt wird. Es vertraut lieber dem optimistischen, dominanten, wortgewandten Redner als dem gewissenhaften Forscher, der Sachverhalte in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit darstellt und eventuell sich selbst in Frage stellt. Narzissten erscheinen vertrauensvoller und vertrauenswürdiger als gewissenhafte Zweifler. Wenn unser als Intuition getarntes Bauchgefühl sagt, dass alles in Ordnung ist, genießt unsere Ratio die Freude mühelosen Denkens und wir lassen uns durch Vorstellungen, Bilder, subliminale, indirekte und manipulative Botschaften beeinflussen. System 1 braucht weniger Energie für seine Entscheidungen, da es sich in vielbenutzten Bahnen bewegt. Es fühlt sich sicher, wenn es in einer Gruppe auf der Seite der Mehrheit steht. Wenn vier von fünf Menschen derselben Meinung sind, wird diese instinktiv als bewiesen und wahr erachtet. Das konnte Galileo am eigenen Leib erfahren, und mit ihm viele andere Genies und Ketzer. Viele von uns haben wohl erlebt, wie eine erwiesene Tatsache durch Mehrheitsabstimmung vom Tisch gefegt wurde. Neues ist anstrengend und ungemütlich.

Nun zu unserem kognitiven System 2: Jedes Urteil ist ein Vorurteil, denn wir kennen nie den ganzen Kontext eines Ereignisses.  Der Kontext, den unser mehrdimensionales Universum darstellt, ist uns zu 99,999 Prozent unbekannt.

System 2 interpretiert und schlussfolgert, konstruiert Geschichten und Kausalitätsketten, Theorien und Philosophien, um sich mit dem Übermaß an Unbekanntem zurechtzufinden. Während einzelne Menschen damit Ruhm und Ehre erlangen, können andere sich dafür die Mühe sparen, was sinnvoll erscheint, denn das Gehirn verbrennt sehr viele Kalorien. Sollten wir unser System 2 dennoch in Gebrauch nehmen, bewegt es sich mit Vorliebe im Sicheren Rahmen von sozial, kulturell und geschichtlich bewährten Kriterien und Bewusstseinsfeldern.

So sind wir in unserer Subjektivität gefangen.

So gibt es Krieg unter den Menschen, oder es erscheint dann und wann ein Frosch in unserem Leben.

Wir sind Gewohnheitstiere und Wundernasen, brauchen beide Lebensstrategien.  Abenteuerlust und Pioniergeist lassen uns Grenzen überschreiten, verbinden uns mit einer immer größeren Ganzheit. Wir sind lernfreudig, fantasievoll und empathisch, gleichzeitig auch zuverlässig und  haben etwas aufgebaut, in Beruf und Familie, Handwerk und Kunst. Gewohnheit und Abenteuer gehören zu unserem Leben, doch wie wir bei Kahneman sehen, kann leicht das Gewohnheitstier überhand nehmen.

Wenn mir, wie dem Baby, alles unbekannt ist, jeder Moment neu erscheint, kann ich Wundernase, offen für das Wunder sein. Staunen. Das Wort „fremd“ gibt es  noch nicht.

Anbindung

Das Märchen sagt uns dieses ganz Wichtige: Vergiss nicht, dass deine Seele eine Prinzessin ist, Tochter eines königlichen Vaters. Deine Seele lebt in einem Schloss. Und wenn du es vergessen hast, erinnere dich daran. Du kannst dich er-innern. Und wenn du dich nicht daran erinnerst, wird die Stimme des königlichen Vaters in deinem Gewissen erklingen. Und wenn du Seine Stimme nicht hörst, werden die Blumen und die Steine und die Engel und die Frösche es dir immer wieder zeigen: Du bist nicht allein, du bist ein Teil im lebendigen Universum. Freue dich über den Platz, den du darin einnimmst.

Integration des Fremden

Aus den Experimenten Kahnemans erkennen wir, wie wir uns mit Unbekanntem und Ungewohntem schwer tun. So erscheinen Frösche in unserem Leben. Unser Gewissen tief im Herzen, der Funken schöpferischer Urkraft sagt uns jedoch, dass dieses wunderbare Universum gut ist. Also fügen wir uns. Wir lassen das Unangenehme an uns heran, in unser Seelenschloss hinein. Wir integrieren die Projektion, sichtbar gemachtes Karma, lieben unsere Feinde, in kleinen Schritten, in alltäglichen Handlungen. Wir verstehen, dass wir selber Frosch sind. Ich-Bewusstsein entwickelt sich aus der Tiefe des Brunnens, des Unbewussten bis in die Räume des Schlosses. Es ringt sich empor aus dem irdischen Schlamm bis zu den königlichen Höhen eines schöpferischen Bewusstseins und landet im Bett der Prinzessin, der Urseelenkraft. Und wird an die Wand geworfen. Die Projektion, die sich Ich nennt, zerschellt an der Wand von Raum und Zeit und plop, das Leben erscheint als Einheit von Seelen- und Geistkräften. Prinz und Prinzessin finden sich.

Auflösung an der Wand von Zeit und Raum

Es ist relativ einfach, Unangenehmes abzulehnen, Ungerechtigkeit, Brutalität, Unwahrheit, in der Politik, in der Gesellschaft, bei anderen Menschen. Aber dann die eigenen Illusionen, Liebhabereien, Bequemlichkeiten, Gewohnheiten, Konzepte, Ideen, Gedanken, Erfolge, Vergangenheit und Zukunft, Sicherheit und Unsicherheit loszulassen ist ein Weg, dem wir folgen können und den uns das Leben zeigt. Er wird dazu führen, dass wir in der lebendigen Gegenwart mit allem verbunden sind, strahlend und fließend, dunkel und hell, klangvoll und unendlich still.

Nichts, niemand, nirgendwo, sein.

Lernen oder leiden

Perfektion und Entwicklung, Kontrolle und Wissen, Pläne und Absichten werden wir loslassen, denn sie führen zu Vergleichen, Urteilen, Konkurrenz und Gewalt, welche uns an die Zeit binden. Diese Dinge verursachen die Täuschung des Leidens. Wir können sie loslassen, wenn wir lernend leben, ohne die Illusion besser zu sein oder zu werden, denn Frosch und Prinzessin sind wir. Wissen schließt lernen aus. Wissen bewegt sich in einer subjektiven Vergangenheit, vergleicht und strebt nach mehr. Lernen ist reines Sein, gegenwärtig, offen für alles, für das Unbekannte, vorurteilsfrei.

Wunder

Ihnen wird also vorgeschlagen, sich mit der leuchtenden Apparatur des Herzens in das Licht der universellen Sonne zu stellen, sich mit dem Licht dieser Sonne zu verbinden. … Sie können sich jedoch nicht ohne weiteres entschließen, die Flamme des heilenden Feuers im Herzheiligtum zu entflammen. Sie können es zwar beschließen, aber Sie halten es nicht durch, es wird keine Standhaftigkeit vorhanden sein. Was sich dann zeigt, ist eine Karikatur, ein Ersatz, das Pulverfass der verdrängten Naturkräfte.

Die Fackel des Feuers muß erobert werden. Der notwendige Reinheitsgrad des Herzheiligtums wird erst nach einer vollständigen Niederlage der Natur möglich. Sie müssen zerschlagen werden dem erhaltenden Selbst nach. Niemand kann hier siegen, der nicht zuerst vom Wahn des Leidens ergriffen wurde.

Wenn dann die letzte Stichflamme des irdischen Ich-Verlangens sich verflüchtigt hat und nur noch ein Ausschauen nach den Bergen des Heils da ist, kann in dieser Läuterung des Herzens das Opfer angenommen werden.

J.v.Rijckenborgh [3]

Der Frosch, der an die Wand geworfen wird, verwandelt sich. Es gibt keinen Tod. Erinnere dich daran, dass deine Seele eine Prinzessin ist, dass dein Vater ein gütiger König ist. Dass du in einem Schloss wohnst, auch wenn die Situationen mit dem Frosch oder den Fröschen manchmal schwer zu ertragen sind. Lerne, die Frösche zu lieben. Du wirst vielleicht ein Leben lang nicht damit fertig werden, aber es ist in Ordnung. Anbindung, Integration, Auflösung, das Wunder der Liebe.


[1] vgl. auch Wörterbuch der Gebrüder Grimm

[2] Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, Pantheon Verlag

[3] J.v.Rijckenborgh, Der kommende neue Mensch, S. 193

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Datum: August 4, 2025
Autor: Catherine Spiller (Germany)
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