Die Nacht der Entfremdung

Die Nacht der Entfremdung

Jeden Sommer zur Ferienzeit zieht es uns in die Ferne. Vielleicht nicht alle, aber viele.

In Bildungsreisen tauchen sie ein in fremde Kulturen, besuchen in Form von Sehenswürdigkeiten die Vergangenheit und versuchen das ihnen Fremde der Gegenwart zu erfassen. Je weiter wir uns dabei von unserer Kultur entfernen, um so fremder mögen uns die Menschengruppen und Kulturen erscheinen, in die wir eintauchen. Und doch gibt es in der Tiefe der kulturellen Symbolik oft Bilder, die in unserer Seele ihren Widerhall finden. Als ich vor vielen Jahren Israel besuchte, war das Gefühl des „Fremdsein“ in den arabisch dominierten Städten und Landstrichen sehr viel stärker als in den Jüdischen. Aber es gab auf in der arabischen Kultur vertraute Elemente, die mich faszinierten.

Die Menschheit entwickelt sich in Epochen

In der Anthropologie stößt man öfter auf den Gedanken, das die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden ein Überbleibsel aus den Anfängen der Menschheitsentwicklung ist. Heute sind über 99% der Menschheit sesshaft. Zu Beginn der Jungsteinzeit vor knapp 10 000 Jahren waren die Menschen Jäger und Sammler. In der sogenannten neolithischen Revolution, die wahrscheinlich südöstlich des Mittelmeeres ihren Ausgang nahm, wird als Revolution bezeichnet, weil sie innerhalb einer sehr kurzen Zeit mit einem großen soziokulturellen Wandel einherging. In dieser Zeit entwickelte sich nach heutiger Sicht der Wissenschaft die Züchtung von Nutzpflanzen und Haustieren. Aus Jägern und Sammlern wurden Bauern und Hirten.

Schon zu jener Zeit machten Klimaveränderungen und Dürreperioden die Anpassung der sesshaften Menschen notwendig. Die Anpassung der Nutztiere und gezüchteten Pflanzen und eventuell auch Migration waren wahrscheinlich schon vor 10 000 Jahren ein Mittel um den Veränderungen und Schwankungen des Klimas zu begegnen. Es hat damit gewisse Ähnlichkeiten mit unserer heutigen Situation. Auch am Ender der Bronzezeit führten starke klimatische Schwankungen, Naturkatastrophen, Migration und Kriege innerhalb einer sehr kurzen Zeit zum Zusammenbruch der entstandenen Kultur und schafften damit eine gewisse kulturelle Offenheit für die nachfolgende Eisenzeit.

So folgt Epoche auf Epoche, mit einem Aufgang, einer Blütezeit und dem darauf folgenden Niedergang, in dem viel Chaos, Not, Krieg und Migration herrscht. Diese Kulturepochen sind wahrscheinlich nicht immer eindeutig, sondern sind begleitet von Unterströmungen. In der jüngeren Menschheitsgeschichte lassen sich diese kürzeren Unterströmungen vielleicht eher identifizieren, da durch historische Zeitdokumente eine genauere Betrachtung möglich ist, die uns aus der Stein- und Bronzezeit fehlen.

Migration eine Reaktion aus grauer Vorzeit

Bei großen kulturellen Umbrüchen scheint Migration immer eine Rolle gespielt zu haben. Die Frage, die sich stellt ist, ob es im Menschen selbst eine Ursache gibt, die diesen Impuls auslöst. Für die Wissenschaft liegt die Ursache darin, dass der Mensch in Notzeiten unbewusst auf Reaktionsmuster zurückgreift, die durch die Menschheitsgeschichte in ihm angelegt sind. In den Frühzeiten der Menschheitsentwicklung war er als Jäger und Sammler unterwegs und so gibt es Wissenschaftler, die den Drang in die Ferne zu reisen als Impuls dieser urgeschichtlichen Entwicklung des Menschen sehen. Vermutlich ist dann auch die Migration ein Impuls der die gleiche Ursache hat. Zumindest legt das die Genforschung nahe, die im Genpool einzelner Menschen Gene findet, die typisch für Menschengruppen sind, die oft tausende von Kilometern entfernt leben. Damit gibt es eine stammesgeschichtliche oder phylogenetische Ursache, die den Menschen dazu bringt, in die Fremde zu gehen, sich einem Ort zuzuwenden, in dem er sich erst einmal fremd fühlen muss.

Fremdsein als Spiegel des Innersten

Menschen, die so auf Wanderschaft gehen werden meistens in ihrem Leben in ihrer Wahlheimat nicht mehr heimisch. So mancher kehrt dann im Alter dorthin zurück, wo er geboren wurde, um dort zu sterben. Vielleicht ist er in die Fremde gezogen, um zu suchen, was er nicht finden konnte, weil er allzu sehr im Außen gesucht hat, was dort nicht zu finden war. Das legt den Gedanken nahe, dass dieses Fremdsein auch eine ontologische oder im Sein des Menschen begründete Ursache hat.

Gibt es vielleicht einen Impuls im Menschen selber, die ihn zu einem Fremden in seinem eigenen Leben werden lassen. Es gibt heute viele Menschen aus dem autistischen oder ADHS Spektrum, die sich sehr fremd in dieser Welt fühlen. Sie werden in eine Welt hineingeboren, die sie schon als Kind nicht verstehen. Oft haben sie Sonderbegabungen und sie lernen nach und nach sich anzupassen. Ihrem inneren Wesen nach bleiben sie aber Fremde. Einige bleiben ihr ganzes Leben lang fremd, passen sich an und werden so unscheinbar. Andere beginnen nach der Ursache zu forschen. Sie suchen nach einem spirituellen Weg, dem sie folgen können.

Nach innen geht der geheimnisvolle Weg

Wir haben bis jetzt einige wissenschaftlichen Faktoren betrachtet und sehen vieles in der Menschheitsgeschichte Reaktionsmuster und kulturelle Entwicklungen, die Ausdruck des Fremdseins sein können.

Diese Erkenntnisse sind die Früchte der Neuzeit, in der sich die Rationalisierung, Individualisierung und Materialisierung bis zu einem Höhepunkt entwickelt hat. Der Religionsphilosoph Nikolai Berdjajew spricht Anfang des letzte Jahrhunderts sogar von einem Endpunkt. In seine Betrachtung fließt noch etwas anderes ein, etwas Geheimnisvolles, das in der modernen wissenschaftlich geprägten Welt erst leise wieder anklingt. Es ist ein leiser und sanfter Ton, den man mit den Worten von Novalis ausdrücken könnte: „Und nach innen geht der geheimnisvolle Weg“. Dort, tief innen gibt es Stille, Reflektion, dort löst sich die in der Neuzeit entstandene Ich-Struktur langsam wieder auf und wird zu etwas Neuem, einem Etwas mit mehr Freiheit und Liebe. Dort entwickelt sich unscheinbar die stille Konzeption eines anderen Menschen und der betrachtet die ganze Entwicklung von einer weniger wissenschaftlichen Sicht, deren Wahrheit aber der wissenschaftlichen ebenbürtig ist.

Dunkle und helle Epochen

Berdjajew beschreibt 1924 in seinem Buch „Das neue Mittelalter“ wie die Zivilisationszyklen wie Wellen aufeinander folgen. Alles hat einen Beginn, entwickelt sich bis zu einem Höhepunkt und löst sich dann wieder auf. Es sind helle und dunkle Zyklen oder Epochen, die sich abwechseln. Auf jeden Tag folgt eine Nacht und dann wieder ein Tag. Das Mittelalter wird heute im Rückblick oft als eine dunkle Epoche beschrieben, auf die wieder mit zunehmender Helligkeit die Renaissance und die Neuzeit folgten.

Diese Zyklen haben etwas Ambivalentes, denn das Mittelalter, das Berdjajew als nächtliche Epoche einstuft hat gleichzeitig etwas versteckt heiliges, geistiges und eine verborgene Tiefe. Es ist eine Zeit besonderer Verdunkelung auf der kulturellen Ebene, in der die Menschen jedoch vielleicht gerade dadurch in der Lage waren, tiefe Erfahrungen im eigenen Wesen zu machen. Die kulturelle Dunkelheit führt sie zu einem engeren Kontakt mit ihrem wesensmäßigen Urgrund, lässt ganz neue Ideen, Gedanken und  Sichtweisen entstehen. Die unsichtbaren Kräfte fügen sich zu einem neuen Muster zusammen, die dann die Grundlage für eine Entwicklung sind, wenn ein neuer Tag beginnt. Sie bilden die Grundlage für eine neue taghelle Kulturepoche, die den Menschen gleichzeitig dem Urgrund wieder entzieht und seine geistigen Energien auf eine materielle Entwicklung richtet.

Wir sind in die Nacht eingetaucht

Berdjajew stellt fest, dass wir mit Beginn des 20. Jahrhunderts in die Nacht eingetreten sind. Diese nun beginnende neue dunkle Epoche ist wie ein neues Mittelalter. Die Kräfte der Neuzeit, ihre Visionen sind aufgebraucht und viele Menschen spüren, dass etwas neues kommen muss. Auf der einen Seite treten in vielen kulturellen Bereich gerade die Gnostischen Sichtweisen sehr offen zu Tage, auf der anderen Seite  waren die Menschen noch nie so individualistisch, ichbezogen und oberflächlich.

Diese ambivalenten Strömungen führen viele Menschen dazu, sich in der Welt fremd zu fühlen. Sie richten sich nach innen, um sich mit der geheimnisvollen Tiefe auseinanderzusetzen, die in ihnen verborgen liegt. Gleichzeitig erleben wir aber auch, wie dieser spezielle Zeitgeist die Gesellschaft spaltet und radikalisiert. Es ist eine Zeit der großen Armut auf der einen Seite und der rauschenden Festen auf der anderen.

Zur gleichen Zeit wie Berdjajew sahen die Gebrüder Leene diese Entwicklung kommen. Berdjajew gründete in der Nähe von Paris eine religionsphilosophische Akademie, die Gebrüder Leene gründeten die Geistesschule des Goldenen Rosenkreuzes, um eine gnostisch interessierte Gruppe von Menschen zu formen, die sich auf diese Entwicklung vorbereiten. Beides waren Möglichkeiten, das Wissen um den Urgrund, in dem alles Leben verankert ist wieder stärker im Bewusstsein der Menschheit lebendig werden zu lassen.

Vom Ich zum Wir

Die verstärkte Wahrnehmung des Urgrunds führt dazu, dass sich die Menschen zunehmend der kulturellen Umgebung entfremden. Solche Zeiten verstärken ein Lebensgefühl der Ratlosigkeit und Unsicherheit und viele Menschen werden schon mit einem Gefühl des Fremdseins geboren. Für sie beginnt ein schmerzhafter Prozess, der die geistig, seelischen Dimensionen ihres Wesens aus der Materie herauslöst. Je tiefer der Mensch in der Materie verstrickt ist, umso schmerzhafter der Loslösungsprozess. Zur gleichen Zeit findet eine Neuorientierung statt für eine Zeit, nach einem neuen Tagesanbruch.

Das verstärkte Interesse der Menschen in indigenen Lebensformen scheint zu zeigen, dass die Menschen nach der starken mentalen Individualisierung, die am Ende der Neuzeit einen Höhepunkt erreicht hat, nun wieder mehr der Kraft des Herzens zustreben. Das Herz stimuliert die Sehnsucht nach Einheit, nach Zugehörigkeit zu einer Community.

Für Berdjajew war diese Seelenstruktur ein essentielles Element der Menschen des Mittelalters. Wenn er hier von einem neuen Mittelalter spricht, dann ist damit nicht gemeint, dass die Menschen in die Vergangenheit zurückstreben. So wie zu Beginn des Mittelalters die klassizistischen Ewigkeitswerte durch eine Neubewertung der griechischen Philosophen gefördert wurde, reagieren die Menschen heute wie im Mittelalter auf die stärker werdende Bindung mit ihrem Wesensgrund.

Wir sind als Menschheit einmal wieder in die Nacht eingetreten. Die kulturellen Strukturen, der Mensch selber und unser Planet verändern sich mit großer Geschwindigkeit. Die stärker werdende Kraft aus dem Urgrund lässt viele Menschen mit  Entfremdung reagieren. Diese Kraft aus dem Innersten teilt die Menschheit in zwei Gruppen. Die Aliens, die sich als Fremde fühlen, haben die Möglichkeit, die Einheit ganz neu zu entdecken. Die andere Gruppe wird sich auf einen kommenden Tag einer neuen Kulturepoche vorbereiten.


Nicolai Berdjajew, Das neue Mittelalter, Otto Reichel Verlag, Tübingen 1927

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Datum: September 16, 2025
Autor: Heiko Haase (Germany)
Foto: man-Bild-von-Steward-Masweneng-auf-Pixabay CCO

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