Unsere wahre Natur, unsere innere Essenz, bleibt von Wandel und Tod unberührt. In ihr ist der Ursprung allen Verstehens präsent.
Das Leben ist eine geheiligte Möglichkeit, sich zu entwickeln, die Wahrheit zu erkennen und zu verwirklichen. Der Augenblick des Todes enthält die beste Gelegenheit zur Erleuchtung. Über den hohen Wert einer Sterbebegleitung.
Leben zu lernen, muss man über das ganze Leben hin,
indes worüber du dich noch mehr wundern magst, ist:
das ganze Leben musst du sterben lernen.
Seneca
Angst
In der Geisteswissenschaft sind Leben und Tod eine Ganzheit, wobei der Tod ein neues Kapitel für das Leben einleitet. Der Tod ist gleichsam der Spiegel, in dem der ganze Sinn des Lebens reflektiert wird.
Trotz dieser Lehren gleicht die moderne, vor allem westliche Zivilisation in weiten Teilen einer spirituellen Wüste. Die Mehrheit glaubt, dieses Leben sei alles. Deshalb wird unsere natürliche Endlichkeit verdrängt und gefürchtet. Sind die Angst vor dem Tod und die Ignoranz gegenüber einem Leben danach und die Verleugnung des Gesetzes, das uns ernten lassen muss, was wir gesät haben, nicht zugleich auch der Treibstoff für die unbedachte Umweltzerstörung, die unser aller Leben zu vernichten droht?
Einer der Hauptgründe, warum wir so viel Angst vor dem Tod haben, liegt darin, dass wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren. Wir wünschen verzweifelt, alles möchte so weiter gehen wie bisher. Gleichgültig, wie oft sich die Wahrheit einmischt, wir ziehen es mit verzweifeltem Mut vor, unsere Illusion der gewünschten Dauerhaftigkeit aufrecht zu erhalten, weil wir darin unsere scheinbare Sicherheit gewährleistet sehen. Und bei alledem handeln wir doch so, als seien wir die letzte Generation auf diesem Planeten.
Das ganze Universum – das sagt uns auch die zeitgenössische Wissenschaft – ist nichts als Veränderung, Aktivität und Prozess, eine Totalität von „Im-Fluss-sein“. Im Urgrund aller Dinge, in dieser Matrix aller Möglichkeiten, blitzen plötzlich flüchtige Formen in die Existenz – in die „explizite, die „ausgefaltete Ordnung“, wie David Bohm sie nennt –, und gehen wieder aus ihr heraus, zurück in die „implizierte, die eingefaltete Ordnung“. So werden niemals endende, immer neu sich schaffende Wirklichkeiten generiert und vergehen wieder.
So geht es auch mit unseren Gedanken, sie kommen und sie gehen. Der vergangene Gedanke ist vorbei, der zukünftige noch nicht aufgetaucht und selbst der gegenwärtige Gedanke ist, sobald wir ihn erfahren, schon vorbei, Vergangenheit. Das einzige, was wir wirklich haben, ist das Hier und Jetzt. Es gibt nur ein Gesetz im Universum, das sich niemals ändert, und das ist das Gesetz der Veränderung.
Sinnfindung in unserem Leben führt zur Akzeptanz des Sterbens
Wir sind nicht dazu verdammt, unvorbereitet in den Tod zu gehen. Vielmehr können wir unser Leben nutzen, um uns mit dem Tod zu befassen. Wir können hier und jetzt anfangen, in unserem Leben Sinn zu finden. Wir können uns jeden Augenblick ändern und dazu reifen, mit friedvollem Geist und offenem Herzen uns sorgfältig auf den Tod und die Ewigkeit vorzubereiten.
Die achtsame Begegnung mit dem Tod kann ein wirkliches Erwachen bewirken, eine Transformation unserer gesamten Einstellung zum Leben. Die vielen Nahtoderfahrungen haben uns gezeigt, dass ein großer Wandel mit den Betroffenen geschieht: Die Angst verschwindet, der Glaube an eine spirituelle Daseinsdimension festigt sich, das Wissen um den Fortbestand des Lebens nach dem physischen Tod wird zur inneren Gewissheit, und das Interesse an materiellen Dingen lässt zunehmend nach. Diese eindrücklichen Erfahrungen haben offenbar eine transformative Wirkung.
Da die Menschheit kollektiv um das Erwachen zu einem neuen, höheren Bewusstseinszustand ringt, könnte es da nicht sein, dass die vielen Nahtoderfahrungen, die in der westlichen Welt erlebt und beschrieben werden, eine Handreichung der Evolution darstellen, diese Transformation über einen Zeitraum von mehreren Jahren in Millionen von Menschen voranzutreiben? Lebensbedrohliche Krisen, schwere Krankheiten können in besonderem Maß persönliche Transformationen mit großer Tiefe auslösen.
Sind lebensbedrohliche Krankheiten in Wahrheit Warnungen, die uns daran erinnern sollen, dass wir tiefe Bereiche unseres Seins und die spirituellen Bedürfnisse unseres wahren Selbstes vernachlässigt haben?
Die Vergänglichkeit ist für unsere natürliche Persönlichkeit gleichbedeutend mit Schmerz, deshalb klammern wir uns verzweifelt an die Dinge, obwohl sie sich ständig ändern. Wir haben Angst loszulassen, wir haben Angst, wirklich zu leben, weil leben lernen loslassen lernen bedeutet. Wir müssen lernen, mit den Veränderungen durch größeres Verständnis ihrer Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit umzugehen. Loslassen ist der einzige Weg zu wahrer Freiheit.
Wir sind Mitbeweger in unserem Universum
Spirituelle Erkenntnis lässt uns bewusst werden, dass wir in wechselseitigen Beziehungen mit allem und jedem anderen stehen. Selbst unsere kleinsten und unwichtigsten Gedanken, Worte und Taten haben reale Konsequenzen im gesamten Universum. Beim Ablegen des physischen Körpers werden unsere Gedanken augenblicklich zur Wirklichkeit, da die Dichte der stofflichen Materie keine Hemmung mehr ausübt.
Für den irdischen Verstand nur schwer begreifbar ist die Erkenntnis der Quantenphilosophie, dass im Akt der Interpretation des Universums wir selbst „unser“ Universum erschaffen.
Mit fortgesetzter Kontemplation und Übung im Loslassen entdecken wir in uns etwas, das wir nicht benennen oder in Konzepte fassen können, etwas, das hinter allen Veränderungen und Toden der Welt steht. Unsere wahre Natur, unsere innere Essenz bleibt von Wandel und Tod gänzlich unberührt. In ihr ist der Ursprung allen Verstehens präsent. Wir begreifen zunehmend, dass dieses Leben eine geheiligte Möglichkeit ist, sich zu entwickeln, die Wahrheit zu erkennen und zu verwirklichen. Wenn wir die Natur des Geistes erkennen, fallen die Schichten der Verwirrung ab. Wir hören auf, verblendet zu sein und werden zu einem wahren Menschen.
Unser logischer Geist scheint interessiert an der einen Wahrheit, doch er ist der Keim der Verblendung! Echte Meditation, in unsere innere Mitte kommen, ist die Möglichkeit, alle Konzepte unserer Egologik zu überschreiten. Sinn und Zweck der Meditation ist es, in uns die himmelgleiche Natur des Geistes zu erwecken, die uns zeigt, was wir in Wirklichkeit sind: das unveränderliche, reine Gewahrsein, das Leben und Tod letztlich zugrunde liegt. In der Stille und Ruhe der Meditation erhalten wir den Einblick in diese tiefe innere Natur, die wir vor sehr langen Zeiten durch Ablenkung und hektische Geschäftigkeit unseres irdischen Verstandes aus den Augen verloren haben; und nun kehren wir zu ihr, der inneren Natur, zurück. Meditation bedeutet, den Geist heimzubringen, und dies wird erreicht durch Achtsamkeit. Achtsamkeit durch ruhiges Verweilen im Hier und Jetzt.
Klar steht dann die Erkenntnis unseres derzeitigen Seinszustandes vor unseren Augen: Der heutige Mensch nimmt sich als einen Teil des Ganzen wahr, das wir Universum nennen, als einen in Zeit und Raum begrenzten Teil.
Das Gefängnis des Trennungsbewusstseins
Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle, als abgetrennt von allem anderen – eine Art optische Täuschung des Bewusstseins. Diese Täuschung ist für uns eine Art Gefängnis, das uns auf unsere eigenen Vorlieben und auf die Zuneigung zu wenigen uns Nahestehenden beschränkt. Unser Ziel muss es sein, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Horizont unseres Mitgefühls erweitern, bis er alle lebenden Wesen und die gesamte Natur in all ihrer Schönheit umfasst. Auf diesem Weg erfahren wir zunehmend die Einheit mit allen und allem im Universum.
Im achtsamen Gewahrsein unseres Lebens gibt es immer wieder Momente, in denen unser Geist viel freier ist als sonst, Momente, die viel mehr Energie enthalten als andere, die geistig wesentlich stärker aufgeladen sind und ungeheures Potential bergen. Der wichtigste all dieser Momente ist der Augenblick des Todes. In diesem Augenblick nämlich bleibt der Körper zurück und wir begegnen der besten Gelegenheit zur Erleuchtung.
Das menschliche Leben ist einzigartig, weil in ihm ein Potential liegt, das wir gewöhnlich nicht einmal zu ahnen wagen. Wenn wir die Gelegenheiten zur Transformation, die das gegenwärtige Leben für uns bereit hält, verpassen, kann es unglaublich lange dauern, bis sich uns wieder eine Chance bietet. Es ist ein großes Glück, den Weg frei zu finden zu diesen hohen Einsichten, und wenn wir sie uns wirklich zu Herzen nehmen und versuchen, sie im Handeln zu verwirklichen, so ist das ein seltenes, aber lichtvolles Aufgehen in der heiligen Matrix des Lebens.
Auf unserem spirituellen Weg werden alle unsere Konzepte von der Welt, der Materie und sogar von uns selbst, die wir in vielen Inkarnationen aufgebaut haben, geklärt und schließlich aufgelöst, und ein vollständig neues Feld der Wahrnehmung, das man „himmlisch“ nennen kann, eröffnet sich.
Oftmals aber klammern wir uns an unser Glück und unser Leid, weil wir sie für real halten und säen mit unseren ungeschickten und unwissenden Handlungen die Saat für unsere nächste Inkarnation. Unsere Handlungen binden uns an den andauernden Kreislauf weltlicher Existenz. Deshalb: Wie wir jetzt leben, so wird unsere Zukunft sein.
Der wahre und dringliche Grund, warum wir uns hier und jetzt weise auf den Tod vorbereiten müssen, ist: Wir können unsere karmische Zukunft transformieren, können vermeiden, wieder und wieder auf tragische Weise in Verblendung zu versinken und so den schmerzlichen Wiederholungskreis von Geburt und Tod endlos zu wiederholen.
Die Weisheit der Ichlosigkeit
Durch unsere Hingabe an den innewohnenden Geist in steter Achtsamkeit bereiten wir den Pfad, um schließlich die Weisheit der Ichlosigkeit zu erfahren. Das Ich, wie wir es kennen, ist eine falsche und aus Unwissenheit und Angst angenommene Identität. Es ist die Abwesenheit des wahren Wissens um unser eigentliches Selbst. Das Ergebnis ist ein verhängnisvolles Festklammern an einem zusammengestückelten, behelfsmäßigen Selbstbild, das trügerisch ist und sich permanent verändern muss, um die Fiktion seiner Existenz am Leben zu erhalten. Viele Leben in Unwissenheit haben uns dazu gebracht, unser ganzes Wesen mit einem Ich dieser Art zu identifizieren.
Die langsam wachsende Erinnerung an unsere wahre Natur ermöglicht die klare Unterscheidung zwischen unserer wirklichen geistigen Führung und all den verführerischen Stimmen unseres Ich; die innere Freude und das Vertrauen wachsen und lösen Zweifel auf. Erst wenn unser Geist leer ist, ist er bereit und offen für Weisheit. Spirituelles Wachstum braucht Zeit. Der spirituelle Weg ist ein andauernder Pfad des Lernens und steter Reinigung, der der Geduld bedarf. Der Sinn unseres Lebens auf dieser Erde ist, die Einheit mit unserer grundlegenden, erleuchteten Natur zu erreichen. Die Aufgabe besteht darin, unser wahres Wesen zu erkennen und es zu verkörpern.
Wir leben in einer Zeit, in der sich nicht nur einige wenige Menschen ernsthaft auf ihre spirituelle Aufgabe zurückbesinnen müssen, sondern in der sich ein großer Teil der Menschheit auf die Suche nach der Weisheit machen muss, wenn die Welt vor den bedrohlichen inneren und äußeren Gefahren bewahrt werden soll. In diesen Zeiten von Gewalt und Zerfall ist eine spirituelle Sichtweise eine Notwendigkeit für unser aller Überleben. Aber es gibt eine unversiegbare Hoffnung, die darin besteht, dass die Quellen der universellen Weisheit in dieser Welt als lebendige Zeugnisse vorhanden sind.
Das Kleinod der Unterscheidung
Um die reine Quelle der Weisheit zu finden, ist ein sicheres Unterscheidungsvermögen erforderlich, da auch gleichzeitig die Kräfte der Imitation und Täuschung ihre Wirksamkeit ausüben. Die Kraft des Unterscheidungsvermögens entwickelt sich in der Hingabe des Herzens an die Geistkraft in uns.
Es sind, karmisch bedingt, sehr individuelle Wege, die uns in unsere geistige Heimat führen. Verlassen wir allen „spirituellen Tourismus“ und seine vielen verführerischen Angebote und gehen wir stattdessen konsequent unseren autonomen Weg, den wir als den für uns rechten Pfad in unserem Herzen erkannt haben, um unsere innere Wahrheit in der universellen Wahrheit aufgehen zu lassen. Wenn man seinem spirituellen Weg mit Hingabe und Disziplin folgt, verwirklicht man in Wahrheit alle Wege, die am Ende das eine Ziel der Erleuchtung zu erreichen suchen.
Verschwenden wir also nicht unsere Kräfte an diese Welt der Täuschungen, denn das bedeutet einen Verrat an unserer Essenz und die Preisgabe einer wunderbaren Chance, unsere erleuchtete Natur kennen und verkörpern zu lernen. Dies ist vielleicht das Herzzerreißendste an der menschlichen Existenz überhaupt. Man muss sich fragen: Was haben wir im Leben gelernt, wenn wir in unserer Todesstunde nicht wissen, wer wir wirklich sind? Im Tibetischen Totenbuch heißt es:
Mit völlig abgelenktem Geist, des Todes Nahen nicht bedenkend, ganz ohne Sinn zu handeln, und dann mit leeren Händen heimzukehren, wäre völlige Verblendung. Notwendig ist daher Erkennen der spirituellen Wirklichkeit. Warum nicht eben jetzt, in diesem Augenblick den Pfad der Weisheit antreten?
Unsere wahre Geistnatur ist zugleich unser innerer Meister. Seit Anbeginn unserer Verwirrung hat dieser innere Meister ohne Unterlass für uns gearbeitet, hat unermüdlich versucht, uns zur strahlenden Weite unseres wahren Seins zurückzuführen. Nicht eine Sekunde hat dieser innere Meister uns aufgegeben, sondern er hat in unendlichem Mitgefühl an unserer Entwicklung gearbeitet.
Hingabe, der kürzeste Weg zur Befreiung
Wir öffnen die Pforte zu ihm durch die reine Hingabe unseres geläuterten Herzens. Einzig und allein durch Hingabe kann man die Wahrheit erkennen. Hingabe ist der reinste, schnellste und einfachste Weg, die Natur unseres Geistes und die Natur von allem zu erkennen.
Reines, einfaches Verweilen in der reinen Präsenz unserer Geistnatur bedeutet zugleich, dass Karma nicht mehr die geringste Chance hat, sich anzusammeln. In dieser sorglosen Selbstvergessenheit kann das karmische Gesetz von Ursache und Wirkung uns in keiner Weise binden. Selbst vorbereitet auf den „Phasenübergang“ bei unserem physischen Tod, können wir anderen, die sich in einem Sterbeprozess befinden, hilfreich zur Seite stehen.
Sterbebegleitung als Menschendienst
Menschen sterben so, wie sie gelebt haben – als sie selbst. Damit eine Verständigung ohne Vorbehalte möglich wird, müssen wir dem Betroffenen im Rahmen des spezifischen Hintergrundes seines Lebens, seines Charakters und seiner Biografie begegnen.
Sterbende zu begleiten bedeutet immer, dass wir uns selbst furchtlos und selbstverantwortlich unserem eigenen Tod stellen und in uns die erste Ahnung eines Mitgefühls entdecken, das so grenzenlos ist, wie wir es uns niemals hätten vorstellen können. Ein sterbender Mensch muss zuallererst Liebe spüren, frei von jeder Erwartung, muss also bedingungslos angenommen werden. Ein Sterbender sehnt sich nach Berührung. Es hilft, ihn zart zu streicheln oder einfach nur seine Hand zu halten.
Wir vergessen leicht, dass der Sterbende im Begriff ist, alles zu verlieren: seine Welt, seinen Besitz, seine Lieben, seinen Beruf, seinen Körper und seinen natürlichen Geist. Alle Verluste, die wir im Leben erfahren und bewältigt haben, werden an dieser Stelle zu einem einzigen überwältigenden Verlust gebündelt. Es wundert nicht, dass Auflehnung und Zorn aufkeimen können.
Elisabeth Kübler-Ross hat dies bei ihrer Begleitung von Sterbenden sehr genau beobachten können und diese Phasen beschrieben: Es beginnt mit dem Leugnen des möglichen Endes, sodann kann sich die Wut gegen das Unvermeidliche auftürmen, um darauf in das Verhandeln-wollen einzutreten, um dem Schicksal noch eine Frist abzugewinnen. Bei nachlassender Kraft stürzt die Zuversicht dann aber oft in eine Depression ab, bis schließlich die Reife der Akzeptanz den Frieden bringen kann. Die Reihenfolge ist unterschiedlich und es werden oft nicht alle Phasen durchlebt.
Wichtig ist, dass wir den Sterbenden nicht allein lassen und dass wir versuchen, die Atmosphäre um ihn mit unserer ausgerichteten geistigen Präsenz zu füllen, um ihm die nötige Ruhe zum Loslassen zu verschaffen und er sich beschützt seinem inneren Licht zuwenden kann.
Vergebung führt unmittelbar zur Befreiung
In einer solchen Situation findet der Betroffene dann auch den Mut, seine Schuldgefühle und scheinbaren Versäumnisse auszusprechen, und wir können ihm Zuversicht geben, dass bis zum letzten Augenblick des Lebens eine Aussöhnung und vollständige Vergebung möglich ist. Wir können ihm die Gewissheit geben, dass Vergebung in der Natur Gottes liegt und die göttliche Vergebung bereits gewährt ist.
Wirkliche Vergebung ist nur aus dem Impuls unseres höheren Wesens möglich. Sie ist ein bewusster befreiender Liebesakt unseres wahren Selbstes. Damit öffnen wir uns für das eine Licht der Wahrheit und lassen alle Anhaftung an das stoffliche Leben hinter uns. Dadurch kann das Karma transformiert werden, denn der Moment des Todes stellt eine höchst machtvolle Gelegenheit zur Reinigung von Karma dar.
Es ist sehr hilfreich, eine Atmosphäre der Ruhe, eine lichte Klarheit in eindeutiger Ausrichtung auf das reine Geistfeld im direkten Umfeld des Sterbenden zu schaffen, denn die letzten Gedanken und Gefühle vor dem Tod haben eine äußerst machtvolle, bestimmende Wirkung für die unmittelbare Zukunft.
Die Kraft des Mitgefühls
Es gibt wohl keinen größeren Akt der Barmherzigkeit, als einem Menschen dabei zu helfen, auf gute Art zu sterben.
Es ist das Mitgefühl, das uns dazu veranlasst, uns dem Wohl anderer zu widmen, uns ihrer Leiden anzunehmen, statt uns nur um uns selbst zu kümmern. Mitgefühl, das Hand in Hand mit der Weisheit der Ichlosigkeit einhergeht, kann das alte Anhaften an ein falsches Ich, die Ursache für unser endloses Wandern in der vergänglichen Natur, wirkungsvoll und vollständig beseitigen. Die Kraft des reinen Mitgefühls ist grenzenlos.
Zunehmend begreifen wir, dass wir anderen auf ihrem Weg zum spirituellen Erwachen nur wirklich helfen können, wenn wir durch den Christusgeist entzündet sind. Deshalb birgt die große Not, die uns täglich vor Augen steht, einen großen Ansporn, selbst mit Entschlossenheit die eigene Vollendung anzustreben, und der innige Wunsch wächst, Erleuchtung zum Wohle aller anderen zu erlangen.
Wir brauchen Mitgefühl in jedem Augenblick unseres Lebens. Wann wäre es aber dringender nötig als zur Zeit des Sterbens von uns oder anderen? Für den Sterbenden ist es wichtig zu wissen, dass er sich voller Glaubensvertrauen in die Hände des reines Lichtes übergeben darf, mit Herz und Geist, mit Körper und Seele, damit er in der Absoluten Präsenz ruhen kann.
Der Tod konfrontiert uns unausweichlich mit der Tatsache, dass der Körper letztlich eine zeitliche Illusion ist. Inspiriert von dieser Erkenntnis, werden wir befähigt, seine vergängliche Natur zu akzeptieren. Wir werden uns gelassen von allem Anhaften an unseren Körper freimachen und ihn freiwillig, ja dankbar und freudig zurücklassen können. Diese Einsicht macht uns tatsächlich fähig, zu sterben, wenn wir sterben. Und so erwachen wir in der Wahrheit und erlangen Freiheit.
Im Tibetischen Totenbuch lesen wir als Zeichen der Akzeptanz für den Augenblick des Übergangs folgende Worte:
Nun, da ich diesen aus Fleisch und Blut zusammengefügten Körper verlasse, will ich ihn als vorübergehende Illusion erkennen.
Aus dem Blickwinkel dieser klaren Erkenntnis, gleichsam mit den Augen eines Adlers, können wir auf eine Landschaft hinabblicken, in der die Grenzen zwischen Leben und Tod, die wir uns eingebildet haben, ineinanderfließen und sich auflösen.
Mögen wir hinreifen zu der göttlichen Gabe des Erbarmens, das uns aus dem Gebet des Franziskus von Assisi entgegenleuchtet:
Solange der Raum besteht und fühlende Wesen leiden, möge auch ich bleiben, die Leiden der Welt zu zerstreuen.
Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens, lass mich Liebe bringen in den Hass, Verzeihung in die Schuld, Einheit in die Zwietracht, Wahrheit in den Irrtum, Glauben in den Zweifel, Hoffnung in die Verzweiflung, Licht in das Dunkel, Freude in die Traurigkeit.
Herr, lass mich mehr danach trachten zu trösten, als Trost zu finden, zu lieben, als Liebe zu finden.
Im Geben empfange ich, im Mich-Vergessen finde ich mich, im Verzeihen erfahre ich Verzeihung, im Sterben stehe ich auf zum ewigen Leben.
Literatur:
Rinpoche, Sogyal: Das Tibetische Buch von Leben und vom Sterben, Otto Wilhelm Barth Verlag, 1997
Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden, Kreuz Verlag, 1971