Die Kelten sprachen oft von einem mythischen, sagenumwobenen Land, in dem alles anders war.
Die geistige Entwicklung der Kelten – Teil 14
In vielen Geschichten, Mythen und Sagen sprechen die Kelten von der Existenz einer „Anderen Welt“. Immer wieder tauchen sie in ihren Geschichten in eine Welt ein, in der z.B. unser Zeitempfinden überhaupt nicht vorkommt.
Man findet auch andere Namen für diese „Andere Welt“, wie zum Beispiel: das Land der Jugend oder das Land der Ewiglebenden.
Diese andere Welt war kein Land, das für den normalen Erdenmenschen unzugänglich war, denn sonst wüssten wir natürlich nichts davon.
Die Kelten schätzten diese Anderswelt stets als Ort der Weisheit, als Ort ihrer Götter und als die Dimension, in der sich die Dichter am wohlsten fühlen.
In dieser Welt gab es auch eine Quelle der Weisheit, und in der irischen Mythologie war es der Brunnen von Conla oder der Brunnen von Segais. Manannan, der Gott des Meeres und König der anderen Welt, erklärt, dass dieser Brunnen fünf Lachse enthält und fünf Ströme hat, die die fünf Sinne bilden. Jeder, der Wissen erlangen wollte, musste aus dem Brunnen trinken, und diejenigen, die auch aus den fünf Strömen tranken, waren die Menschen der Künste. Diese Leute sind natürlich die Barden oder Dichter.
Wir sehen das Trinken aus dem Brunnen der Weisheit auch in der Edda, in der Odin den göttlichen Trank aus dem Brunnen von Mimir trinken musste, um Herrscher über die Macht der Sprache zu werden.
Es war jedoch nicht einfach, in die andere Welt zu gelangen; man musste dafür etwas Besonderes leisten oder eingeladen werden. Aber diese „Einladung“ erfolgte oft, ohne dass man damit rechnete. Mit anderen Worten, wenn die Einladenden an einem interessiert waren, wurde man einfach dorthin gebracht.
Die geografische Lage dieses besonderen Bereichs variierte, denn manchmal befand sich diese Welt unter dem Meeresspiegel, inmitten eines Berges oder mitten im Ozean. Eines kann man mit Sicherheit sagen: Im Prinzip befand sich dieses Land in unmittelbarer Nähe von Irland.
Wenn wir an einen geheimnisvollen Ort mitten im Ozean denken, kommt uns unwillkürlich das untergegangene Atlantis in den Sinn. Das ist sicher nicht verwunderlich, denn nach W.Y. Evans Wentz ist das ertrunkene Land Atlantis für die Kelten eine Gewissheit, und die „Andere Welt“ ist eindeutig damit verbunden. Evans Wentz glaubt, dass der Untergang dieses Kontinents einen tiefen Eindruck auf die Seelen der späteren Bevölkerung jener Regionen gemacht hat und dass sie deshalb das ertrunkene Land Atlantis in Mythen und Legenden verankert haben.
Auch Rudolf Steiner hat in seinen Schriften darauf hingewiesen, dass die von den keltischen Druiden erzählten Geschichten auf einer unbewussten Erinnerung beruhen.
Die Kelten waren davon überzeugt, dass Atlantis in ferner Vergangenheit existiert hatte und allmählich im Meer versank. Sie haben diese Urerinnerung mit einer noch älteren Erinnerung verknüpft, nämlich der an das verlorene Paradies. Beide Erinnerungen blieben in den Seelen der Menschen haften, die sie später aufschrieben und den Ursprung der uns bekannten Sagen und Mythen bildeten.
Die Anderswelt war der Zufluchtsort für ihre toten Helden und die Götter, die sich von der Welt zurückzogen. Das Reich der Anderen Welt war das Reich der ewig Lebenden, in dem alles möglich war und große Taten vollbracht wurden. Das Leben dort war bis zur Vollkommenheit verbessert worden und wurde mit allen Freuden des Essens, Trinkens, der Liebe und der Glückseligkeit fortgesetzt.
Die Anderswelt war so schön und wunderbar, dass sie die keltischen Dichter mit ihrer Beredsamkeit zu melodiösen lyrischen Versen inspirierte.
Viele wunderbare Reiseberichte in die Anderswelt sind uns überliefert und haben sogar eine neue Art von Geschichten hervorgebracht: das Immrama.
Man sollte bedenken, dass die Bevölkerung in der fernen Vergangenheit noch über Hellsichtigkeit verfügte, in der sie mit ihrem Ätherleib die Welt der Götter wahrnehmen konnte. Ihre Welt sah nur anders aus als unsere.
Sicherlich, der eingeweihte Druide sah die Götter, konnte mit ihnen konferieren und so die Menschen führen. Im Laufe der Zeit nahm diese Hellsichtigkeit jedoch ab und verschwand schließlich, um dem heutigen Bewusstsein Platz zu machen, das mehr auf die physische Welt ausgerichtet ist.
Konnten die hellsichtigen Druiden damals noch die Götter sehen, so mussten sie sich später mit der Wahrnehmung von Elementarwesen begnügen, die in Irland „Feen“ genannt wurden. So wurden bestimmte Pflanzen, Bäume und Quellen hoch geschätzt, weil sie der Wohnsitz bestimmter Elementarwesen waren.
Hans Gsänger schreibt in seinem Buch „Irland“ [3], dass wir die „Andere Welt“ nicht nur bei den irischen Kelten finden. Auch die Griechen kannten das Land, das weit im westlichen Ozean lag. Sie erzählten von einer Insel, auf die in Ausnahmefällen auch gewöhnliche Menschen kommen konnten, um ein glückliches Leben zu führen.
Für die Griechen lebten der Titan Atlas und seine Töchter, die Hesperiden, in der westlichen und nächtlichen Region des Ozeans, wo auch der Ursprung und der Abgrund von Himmel und Erde liegen würden.
Die Hesperiden wohnten auf einer Insel, zu der kein Schiff Zutritt hatte und wo sie die goldenen Äpfel bewachten, die nicht für das gemeine Volk, sondern für diejenigen bestimmt waren, die zu übermenschlichen Taten fähig waren.
Aischylos, Pherecydes und Apollodoros glaubten, dass Atlas und seine Hesperiden sich nördlich des Rhipäen-Ozeans, also in der Nähe von Hyperborea befanden. Herkules hat also einen längeren Weg zurückgelegt, als wir zunächst annehmen, um die goldenen Äpfel von den Hesperiden zu holen!
Die Hyperboreer werden von den alten Griechen, wie Herodot und Pausanias, erwähnt. Sie hatten eine Religion, die von Apollo beherrscht wurde und daher auch mit der Bel- oder Sonnenreligion der Kelten und Germanen verglichen werden kann.
Im Prinzip lebten die Hyperboreer noch im paradiesischen Zustand, in dem der Mensch noch nicht durch den Sündenfall denaturiert war.
Man nannte sie auch die „Langlebigen“, weil ihr Leben manchmal Hunderte oder Tausende von Jahren umfasste. Rudolf Meyer schreibt in diesem Zusammenhang, dass im finnischen Epos, dem Kalevala, Wäinämöinen, der urzeitliche Sänger und Zauberer, siebenhundert Jahre im Mutterleib lag, bevor er geboren wurde. Dies deutet bereits darauf hin, dass der Mensch in der hyperboreischen Zeit in seiner ätherischen Lichtgestalt lebte, in der er den Tod noch nicht kannte, sondern eine Veränderung und Umwandlung oder Verjüngung seiner Lebensform.
In der „Anderen Welt“ stoßen wir auch auf das bereits erwähnte „Immrama“. Das sind Geschichten über Menschen, die Zugang zu dieser anderen, übersinnlichen Welt finden und dort eine besondere Erfahrung machen.
Kennzeichnend für die Situation im Immrama sind die folgenden Punkte:
– Man hat den physischen Körper nicht mehr
– Nur Paradiesäpfel dienen als Nahrung
– Es gibt keine Erotik und Sexualität
– Das Zeitempfinden ist anders
– Der Todeszeitpunkt und die Todesursache der Sterblichen ist in der anderen Welt bekannt
Die Geschichten beschreiben oft (aber nicht immer) eine bestimmte Einweihung, die in farbenfrohen und phantasievollen Bildern dargestellt wird.
Die Immramas erinnern an die griechischen Abenteuer des Odysseus, und die Kelten beschreiben diese Erfahrungen genauso, wie sich die Griechen das Leben der Hyperboreer vorgestellt haben.
Eines der berühmtesten Immramas ist die Geschichte von Ossian oder Oisin, dem Sohn von Fionn mac Cumhaill.
Der irische Schriftsteller William Butler Yeats [1] hat seine Autobiografie in der folgenden Geschichte kunstvoll geschildert:
Die Wanderungen des Ossian
Ossian wird von der Fee Niamh auf einem weißen Pferd in die andere Welt geführt. Dort lebt er mit seiner Fee 300 Jahre lang ungestört und in Frieden, doch dann bekommt Ossian Heimweh und sehnt sich danach, nach Irland zurückzukehren, um sich wieder seinem geliebten Geschlecht der Fianna anzuschließen. Seine Frau, die Fee Niamh, warnt ihn dreimal davor, seine Füße auf den Boden zu setzen, und sagt ihm außerdem, dass er die Menschen, die er kennt, nie wieder treffen wird. Aber all das macht keinen Sinn. Er kehrt zurück und muss zu seinem großen Bedauern feststellen, dass seine Frau Recht hatte. Und wie sehr sich Irland verändert hat! Nun erfährt er, wie lange er weg war, und streift auf seinem Pferd durch alle Orte, an denen er jemals seine Familie, die Fianna, getroffen hat, ohne jemanden zu sehen, den er kennt. Dann trifft er auf eine Gruppe von Männern, die einen schweren Grabstein zu einem Friedhof tragen. Sie bitten den jungen Mann um Hilfe. Ossian bückt sich, stürzt aber vom Pferd. In dem Moment, in dem sein Fuß den Boden berührt, ist sein Pferd wieder im Märchenland, und Ossian ist plötzlich ein alter, blinder und gebrochener Mann!
Fortsetzung folgt in Teil 15
[1] William Butler Yeats, Die Wanderungen des Oisin, London: Kegan Paul & Co, 1889
[2] Caitlín Matthews, Die Elemente der keltischen Tradition, Element Books, 1989
[3] Hans Gsänger, Irland. Insel des Abel. Die irischen Hochkreuze [Irland. Insel des Abel. Die irischen Hochkreuze], Verlag Die Kommenden, 1969