Bei einem Stadtbummel in Göttingen stieß ich in den 1980er Jahren auf einen Fotokalender über Schottland, der im Schaufenster eines Buchladens ausgestellt war. Sofort zogen mich die Schwarz-Weiß-Fotos von alten Burgen, Steinkreisen und zerbrochenen Telefonzellen auf einsamen Heidelandschaften in ihren Bann, ich kaufte den Kalender und rahmte die schönsten Bilder für meine Studentenbude in Berlin-Neukölln ein. Wie ein Weckruf aus geheimen Regionen Europas hallten sie täglich herüber, bis ich 1987 endlich das erste Mal Schottland besuchen konnte. Nie zuvor hatten mich ein Land und eine Landschaft so überwältigt, oft flossen die Tränen, wenn ich an gälischen Ortsschildern vorbeikam oder wenn ich uralte Steinkreise besuchte, die ihre Wirkung vor allem unter dramatischen Himmeln entfalteten, wie sie Schottland so reichlich bietet. Die magischen Orte, die Erde und der Himmel schienen zu einem Spiegel für innere Landschaften zu werden und ermöglichten mir, zu verführerischen Regionen meines Unbewussten zu reisen, die mir in meiner „taghellen“ deutschen Heimat verschlossen waren. Was spielte sich hier ab, warum zog mich das alles so an?
Überwältigt von neuen Gefühlen fragte ich mich manchmal, ob ich schon einmal in diesem Land gelebt hatte und nun ferne Erinnerungen aus vergangenen Leben hochspülten, die ich nur mühsam in meine gegenwärtige Existenz integrieren konnte. Weniger spirituell gesinnte Freunde, denen ich so etwas erzählte, konnten damit nichts anfangen, viel dagegen mit dem Zauber von „heiligen Orten“, den ich ihnen gut vermitteln konnte. Die schottische Erde ist getränkt mit spirituellen Kraft- und Kultorten, die über das christliche Mittelalter und die Epoche der Kelten bis in ferne Megalithzeiten zurückreichen und von denen ich in Deutschland nie etwas gehört hatte. Oft hatte ich sogar den Eindruck, dass in den deutschen Medien und Bildungsanstalten dieses geheime Erbe Europas zurückgehalten wurde, als hätte es dies nie gegeben. Im Fernsehen wurde ständig über die Pyramiden Ägyptens, die Klöster Tibets und die alten Tempelanlagen in Lateinamerika berichtet, aber die Kultstätten oder Mythen unserer europäischen Vorfahren kamen so gut wie nie vor. Auf weiteren Reisen entdeckte ich in Schottland ein faszinierendes kulturhistorisches Erbe, das mir mithilfe von frühchristlichen Sonnenkreuzen, heiligen Quellen, Menhiren und Dolmen eine mir bis dahin unbekannte und stark mit der Erde verbundene Spiritualität nahebrachte. Hier wehte kein Weihrauch, sondern ich war von frischer würziger Luft umgeben, hörte oft in der Ferne das Rauschen des Meeres und spürte den Flügelschlag von See- und Raubvögeln über mir. Etwas Wildes lag in der Luft dieser einsamen Orte, auch wenn es keine Steinkreise, sondern überwachsene Ruinen von Kirchen und Friedhöfen waren: neben Gefühlen der Andacht hatten in diesen „Gotteserfahrungen“ auch solche der Leidenschaft, des Traumes und der ungezähmten Imagination Platz.
Die Tempel der Kelten und Megalithiker, aber auch die Friedhöfe und Eremitagen der irisch-schottischen Mönche waren oft an Meeresküsten gebaut worden, wo es manchmal dramatisch hinunterging zum ewigen Rauschen und Toben der Elemente. Überhaupt war die Natur in ihrer ganzen Vielfalt immer eingebunden in die Aura dieser Orte, so dass dort andere kontemplative Stimmungen herrschten als in den Kirchen Deutschlands: selbst an heiligen Quellen sprudelte es immerzu aus der Erde und der Geruch des frischen Wassers begleitete wie ein Mantra meine religiösen Stimmungen. Hier wurde das „Heilige“ anders erlebbar als in den bisher gekannten kirchlichen Ritualen; Standing Stones, Steinkreise oder Ganggräber bezogen ihre Stimmung auch durch den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten.
Der Steinkreis von Callanish, Isle of Lewis, Scotland
(Photo Rüdiger Sünner)
Eine englische Freundin, mit der ich auf der Hebrideninsel Lewis den riesigen Steinkreis von Callanish besuchte, brachte das gut auf den Punkt, indem sie sagte: „Inmitten dieses Kreises ist im Sommer mehr Sommer und im Winter mehr Winter.“ Die Anlage mit ihren mächtigen Steinsäulen wirkte wie ein Fokus, der die Umgebung in allen Stimmungen verstärkte: wenn es regnete, machte das an ihnen abperlende Wasser die ganze Kraft und Schönheit des Regens noch sichtbarer, an den im August erwärmten Steinen spürte ich die Sommerhitze deutlicher und nachts glaubte ich über dem Megalithtempel die Sterne kreisen zu sehen. „Gott“ oder „das Göttliche“ waren hier nicht rein geistige Wesenheiten, die alle Natur und Physis überwunden hatten, sondern schienen geradezu in den Elementen noch einmal deutlicher auf. Und auch der Tod war hier anders in die Natur eingebunden als auf den einheimischen Friedhöfen. So war ich tief fasziniert von der Recherche eines britischen Archäologen, der herausgefunden hatte, dass die Erbauer der Megalithanlagen wohl davon ausgingen, dass die fluiden Überreste der Leichname auch die Grabanlage als solche mit „ernähren“ sollten. Bestimmte künstlich aufgeraute Strukturen an den Steinwänden führten ihn zu der Annahme, dass man diese porös halten wollte, um die körperlichen und vielleicht auch seelischen Energieströme der Toten in sie hineinfließen zu lassen. Der Mensch verband sich also nach seinem Ableben restlos mit der ihn umgebenden Landschaft, statt in ferne und abstrakte Himmel davonzufliegen.
Himmel und Erde, Geist und Materie schienen mir in den Kultlandschaften Schottlands enger zusammenzurücken als in den Kirchen meiner Heimat, wo doch alles – auch von der Architektur her – darauf ausgerichtet war, nach oben zu streben. Gott schien in diesen nordischen Seelenlandschaften nicht in entrückten Himmeln zu wohnen, sondern überall auf der Erde, in jedem Grashalm, Frosch, in jeder Erdkrume und in der salzigen Gischt des Meeres. Auf keltischen Sonnenkreuzen in der Nähe einer Küste sah ich einmal die Abbildung springender Delphine und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte mich. Auch diese zauberhaften Geschöpfe durften am Erlösungswerk des Christentums teilnehmen, gemäß dem wunderbaren Satz von Novalis, dem „keltischsten“ aller deutschen Dichter: „Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze, Tier und Element werden, und vielleicht gibt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung der Natur.“
Meine vielen Besuche in Schottland, später auch in Irland, Cornwall und Wales, regten mich auch an, mich intensiv mit einer dort verbreiteten Spielart des Christlichen zu beschäftigen, die ich aus meiner Heimat nicht kannte: dem sogenannten „iro-schottischen Christentum“, das in vielerlei Hinsicht anders war als das “römische“. Vor allem eine größere Naturnähe fiel hier auf: Klöster und Kirchen beerbten ganz selbstverständlich die heiligen Eichen der vorangegangenen Druidenreligion und zerstörten sie nicht, wie es etwa der Missionar Bonifatius mit der „Donareiche“ der Germanen getan hatte. Viele iro-schottische Priester hielten ihre Messen in Wäldern oder am Meer ab, die durch den Gesang der Vögel untermalt wurden, die man auch als gefiederte Engelbotschafter begrüßte. In den keltischen Ländern spürte ich eine Spiritualität, die weniger durch den Bruch mit der „Erde“ lädiert war als etwa im Kölner Dom, in den mich mein Vater oft als Kind zur Sonntagsmesse mitgenommen hatte. Hier schüchterten mich die nach oben strebenden Steinpfeiler des gewaltigen Sakralgebäudes eher ein, ebenso die verhallten Stimme der Prediger und die brausenden Orgelklänge, die uns ständig zu etwas „Höherem“ und „Reinem“ hinaufziehen wollten. Man sollte still sein, sich beugen und hinknien vor einem entrückten Gott, den die Kinderphantasie sich eigentlich nur als eine physisch nicht greifbare und einschüchternde Gestalt vorstellen konnte. Als einen „Vater“, „Herrn“ und „Herrscher“, als ein unfehlbares und unbeflecktes Abstraktum irgendwo in den kosmischen Fernen, der zwar seinen Sohn auf die Erde geschickt hatte, aber doch immer unsichtbar blieb.
Megalithic burial site of Newgrange, Ireland
(Photo Rüdiger Sünner)
In Schottland und Irland dagegen spürte ich auch ein weibliches Element in der dortigen spirituellen Atmosphäre, die „heilige Erde“ war dort durchtränkt von Begriffen wie „Mater“ und „Anima“, was erlösend und entkrampfend auf mich wirkte. Studien der litauischen Archäologin Marija Gimbutas bestätigten dieses Gefühl, indem sie darauf hinwies, dass die ganze Symbolik der neolithischen Grabanlagen stark weiblich getönt war und eventuell mit einem Kult der „Großen Göttin“ zu tun hatte. Die Hügelgräber wirkten tatsächlich oft wie ein Bauch auf mich, in den man wie durch eine Vulva hineinkriechen konnte, und darin gefundene Spiralornamente und weibliche Figurinen bestätigten diese Deutung. In diesem Land verstand ich erst die sakrale Bedeutung von Bezeichnungen wie „Mutter Erde“ oder „Mutter Natur“; ich begriff, dass viele alte Kulturen sich mit ihren Heiligtümern auch bei der Erde für ihre Fruchtbarkeit und Freigiebigkeit bedankt hatten und sie als mütterlichen Schoß sahen, der einen nach dem Tod wieder aufnimmt.
Waren all das nur schwärmerische Phantasien oder regressive Sehnsüchte eines spirituell unterernährten Deutschen, der die moosüberwachsenen Ruinen des keltischen Nordeuropa nur für seine subjektiven Projektionen missbrauchte? Anfänglich hatte ich nur rein emotional auf die Hinterlassenschaften der Megalithiker, Kelten, Gralserzähler und iro-schottischen Mönche reagiert, aber nach und nach las ich immer mehr darüber und stützte meine Empfindungen auf seriöse Literatur. Und selbst wenn sich nicht alles, was ich empfand, mit den Forschungen der Archäologen deckte, so erzeugte es doch Stimmungen und Ideen, die mir durchaus in unsere Gegenwart zu passen schienen. Was konnte in Zeiten dramatischer ökologischer Krisen passender sein, als Spiritualität auch mit Andachtsübungen gegenüber einer als „heilig“ verstandenen Natur zu verbinden? Zeichnete sich unsere Zivilisation nicht durch eine enorme Undankbarkeit gegenüber einer Umwelt aus, die nur noch als Rohstoffhalde ausgeplündert wurde? Und gab es nicht auch immer mehr Menschen, die naturreligiösen Anschauungen zuneigten, um der „Erde“ als einer nährenden und schenkenden „Mutter“ zu danken? Hatte nicht der deutsche Förster Peter Wohlleben mehrere Bestseller verfasst, die mit Titeln wie Das geheime Leben der Bäume, Das Seelenleben der Tiere, Hörst du, wie die Bäume sprechen? und The secret wisdom of Nature einen anderen Umgang mit Wäldern, Tieren und der Erde anmahnten?
Ich glaube heute, dass meine Entdeckung der „heiligen Erde“ in den keltischen Regionen Europas nicht nur viel damit zu tun hat, dass ich einen tiefen spirituellen Bezug zur Natur habe, sondern auch, dass damit eine verschüttete „romantische“ Dimension in mir zum Ausdruck kommen konnte. Denn auch die deutsche Romantik hatte diese Art von seelischer Beziehung zur Natur: Herder, Goethe, Schiller, Schelling, Novalis, Hölderlin, Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff, Caspar David Friedrich, die Brüder Grimm und viele andere sahen in der Natur etwas „Heiliges“ und huldigten diesem in ihren Werken. Aus Gründen, die einer näheren Untersuchung wert sind, ging vieles davon verloren, auch die „Grünen“ oder die Anhänger von „Fridays for Future“ wissen nichts mehr davon. Doch in den Seelenlandschaften des Nordens durfte ich wieder einen Anschluss an diese wunderbaren Traditionen finden und werde dieses kostbare Erbe in Filmen und Büchern weiter umkreisen.[1]
Es ist zu einem Herzstück meines Lebens geworden und Gunter Friedrich hat wohl mit seiner Intuition etwas Richtiges getroffen, als er mich einmal die „Wiedergeburt eines keltischen Barden“ nannte. Mit einem Augenzwinkern nehme ich diese Bezeichnung gerne an.
[1] Mehr zu meinen Seelenlandschaften kann man in meinen Büchern Der Geschmack der Unendlichkeit – Spiritualität im Alltag (Europa-Verlag 2022) und in Wildes Denken –Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt (Europa-Verlag 2020) finden und auch viele meiner Filme erzählen davon (Tree of Life, Geheimes Deutschland, Engel über Europa, Wildes Denken, alle als DVD und VOD erhältlich bei www.absolutmedien.de)