Feuer im Herzen – Ein Blick in die Tiefe der russischen Seele

Für einen suchenden Menschen ist es lebensnotwendig, dieses Wunderbarste zu erfassen: den Abglanz des höchsten Feuers im eigenen Innersten.

Feuer im Herzen – Ein Blick in die Tiefe der russischen Seele

Die Silbe „Ur“ weist auf die Wurzel des Lichts im Feuer hin. Seit unvorstellbaren Zeiten zieht dieser strahlende Urgrund die Herzen der Völker an.1

Wahrlich, der Pfad des Geistes muss von Menschenfüßen beschritten werden! 2

In ihrem Werk Feurige Welt bezeichnet Helena Roerich, die Begründerin des Agni Yoga, das Element Feuer als die allgegenwärtige, am meisten schöpferische und am meisten lebenspendende Kraft. Sie stellt fest, dass das menschliche Bewusstsein sich mit vielen leeren und unbedeutenden Überlegungen über das Feuer beschäftigt und ihm dabei das Wunderbarste entgeht. Für einen suchenden Menschen ist es aber lebensnotwendig, dieses Wunderbarste zu erfassen: den Abglanz des höchsten Feuers im eigenen Innersten. Ist dieser Abglanz zu erspüren? Kann ein Mensch das Mysterium des Feuers in seinem eigenen Innern entschlüsseln?

Das entflammte Herz – Die Legende von Danko

Es scheint, als hätten Opfer und Feuer nichts miteinander gemein, doch das Opfer wird in allen Überlieferungen als flammend bezeichnet.3 „Man muss Feuer, Wasser und Posaunen überstehen“, so lautet ein russisches Sprichwort, das sich aus der Offenbarung des Johannes ableitet und in dem der Volksmund deutlich macht, welche Bedingungen auf dem Weg zum Göttlichen erfüllt werden müssen. Der an die Natur gebundene Mensch muss begreifen, dass eine Umkehr erforderlich ist. Dann wird sein Herz durch ein Gnadenfeuer entflammt, das nicht versengend ist.4 Der wahre Mensch besitzt ein reines Herz, er ist das Herz. Er wohnt als ein Gott im Herzen der Naturgestalt.5

Ein reines, entflammtes Herz begegnet uns in der Legende von Danko.6  Sie erzählt vom Entwicklungsweg der Menschheit mit all seinen Hindernissen und seiner Mühsal. Es ist ein Weg, der nur gangbar ist, weil die Liebe und der Trost aus der göttlich-geistigen Welt den Menschen begleiten. Der Jüngling Danko opfert sich. Er reißt, als sein Volk sich in einem scheinbar ausweglosen dunklen Wald verirrt hat und nur noch Verzweiflung herrscht, sein Herz aus der Brust und hält es hoch über den Kopf. Es leuchtet heller als die Sonne und weist den rettenden Ausweg.

Das Opfer an die Weltseele – Die Legende von Kitesch

Es ist nachvollziehbar, dass die Anforderungen des befreienden Pfades einen Menschen abschrecken können, vor allem, wenn er versucht, „Feuer, Wasser und Posaunen“ aus eigener Kraft zu bewältigen. Damit steht er sich selbst im Weg und hindert die unsterbliche Seele, die ihm „näher als Hände und Füße“ ist, daran, ihm zu helfen. Ein Motiv für die überindividuelle seelische Macht begegnet uns in der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch.

Die Legende berichtet, dass Kitesch im See untergetaucht ist und dadurch vor der Batu Khan-Armee gerettet werden konnte. Allein Fevronya, die Gattin des im Kampf gefallenen Fürsten Wsewolod, kann die Stadt sehen und auch die weißen, in Tränen gewaschenen Gewänder ihrer Bewohner mit den Lilien des Paradieses darauf sowie die brennenden Kerzen, die sie in den Händen tragen. Wie eine Feuersäule steigt das Licht über der unsichtbaren Stadt zum Himmel auf; es strömt aus den geöffneten Türen ihrer Kathedrale hervor.7

In dieser Legende schwebt über dem Ego eine überindividuelle Macht. Sie verwandelt das Leiden auf dem Weg und macht es zu einem Ausdruck der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Menschen. Die Stadt Kitesch vermag aus dem See aufzusteigen aufgrund des unverdienten Leidens aller für alle. Hierin bildet sich in der Seelenweisheit Russlands das Ideal einer spirituellen Essenz ab, die man mit den Worten ausdrücken kann: Wer das Leiden geduldig auf sich nimmt, auf den harrt die Erlösung.

In der Legende zeigt sich, dass es nicht um die Befreiung des Individuums geht, sondern um die der Gemeinschaft, ja letztlich die der Menschheit. Ähnlich wie in der Parzivalsage muss auch hier eine Frage gestellt werden. In der Kitesch-Legende lautet sie: Wie kann die Menschheit gerettet werden? Die Antwort liegt in dem Gebet, das die Gnade Gottes für alle erfleht.

Die Legende lehrt uns, unsere individuellen Motive für den geistigen Aufstieg dem Streben der Gemeinschaft unterzuordnen. Weg und Ziel eines bloß individuellen Strebens finden in der Kitesch-Legende keinen Platz.8

Feuersäule des Geistes – Der Prometheus von Alexander Skrjabin

Mit der Frage der Transformation des Bewusstseins der Menschheit beschäftigte sich auch der russische Komponist Alexander Skrjabin (1871-1915), der Mitglied der Theosophischen Gesellschaft Adyar in Belgien war. Er sah in der Bewusstseinstransformation seinen Lebensauftrag, dem er stets treu blieb. Skrjabin hoffte, die Menschheit mit der Musik und der Kunst zu erlösen. In einer geistigen Schau erblickte er die Feuersäulen eines Tempels, die wie von Himmel herabkamen. Er hatte vor, in Indien, dem Land der Musik und Magie, einen Mysterientempel zu errichten, in dem er sein speziell dafür komponiertes Orchesterwerk Prometheus – Poème du Feu (1911) aufführen wollte. Die Erlösung der Menschheit sollte durch ein Gesamtkunstwerk geschehen, eine Synthese sämtlicher Künste, eine Symphonie aus Wort, Ton, Farbe, Duft, Berührung, Tanz und bewegter Architektur. Unter einer Halbkugel sollte dieses Geschehen mit 2.000 Mitwirkenden immer wieder neu stattfinden, so lange, bis die gesamte Menschheit das Mysterium erlebt haben und in eine höhere Bewusstseinsstufe erhoben würde.

Wie mit einer frischen Windbrise sollten die Melodien die Herzen aller Menschen auf der Erde berühren. Dann würden sie aus ihrem irdischen Schlaf erwachen, sich wie auf einer Brücke in die höhere, geistige Welt bewegen, die lebt und atmet und auf Seelen wartet, die zu ihr herangereift sind. Die Menschenseelen würden in dieser hohen und reinen Energie so lange verweilen, in diesem Liebesmeer so lange baden, bis sie gereinigt und befreit sind.

Man könnte meinen, dass Alexander Skrjabin diese Vision, diesen Auftrag nicht erfüllt hat, da kein sichtbarer Tempel erbaut worden ist. Doch im Prometheus mit seinem „mystischen Akkord“, der Luce-Stimme und dem „Farbenklavier“, hat er den Tempel in unsichtbaren Sphären verwirklicht. Unter den vielfältigen Erscheinungsformen des „Tredezimakkordes“ erlangte Alexander Skrjabins „mystischer Akkord“ (der „prometheische Akkord“) eine besondere Bekanntheit und Bedeutung.9

Als Mitwirkender in einer theosophisch orientierten Gruppe wusste Skrjabin, dass unsere Welt von feurigen Gedanken durchdrungen ist, die, wenn es gut ist, mit den sieben Strahlen des geistigen Universums in Verbindung stehen. Durch sie kann das Alte (das Irdische) vergehen und das Neue (das Göttliche) geboren werden. Wie sich einzelne Flammenzungen in einem unendlichen Tanz zu einem mächtigen Feuer vereinen, so verbinden sich die lichtvollen Gedanken miteinander und gehen ein in das große Wesen der Weltseele, das den göttlichen Geist empfangen kann. Jeder Mensch, der von der Weltseele berührt wird und sich von ihren Flammen erfüllen lässt, wandelt zu einem Lichtwesen.

Das Wunderbarste liegt in der Tiefe

Galaxien mit Sternen und Planeten entstanden aus dem Ur-Feuer. Auch unser Planet wurde aus ihmhervorgebracht. Hermes Trismegistus nennt die „Heilige Erde“ den „zweiten Gott“. Die Kräfte der siebenfachen Heiligen Erde, die „sieben Flammen der Isis“, ermöglichen die Heranbildung der ursprünglichen Seele und des ursprünglichen, geistig-seelischen Körpers. Die Seelenkräfte können ihr siebenfaches Vermögen dem geöffneten Herzen des Menschen übertragen. Das führt zu einem siebenfachen Prozess, auf dem der „siebenfache Leuchter, der vor Gott steht“, im Menschen erneut entflammt wird.10

So erfährt er das Wunder des Feuers.

Helena Roerich schreibt:

Um das Feuer als den Weg der Hierarchie, der Liebe und des Mitleids zu empfangen und anzunehmen, muss man sich unwiderruflich mit dem ganzen Herzen opfern, nur so werden sich die kleinen Sterne in flammende Giganten verwandeln.11

Die Sehnsucht, den Abglanz des höchsten Feuers im Innersten zu schauen, wird erfüllt, wenn sich der Mensch zu seinem geistigen Kern umkehrt. Dann öffnet sich das Wunderbarste, der innewohnende Geist, das Ur-Feuer.


1 Helena Roerich, Feurige Welt, 1933 (S. 8-13 im russ. Original)
2 Nikolai Roerich, Altai – Himalaya, 1929 (S. 78 im russ.Original)
3 Helena Roerich, a.a.O.
4 A.a.O.
5 Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Urgnosis, Band 1, Rozekruis Pers, Haarlem, 2. Auflage 1983, S.75
6 Maxim Gorki, Die alte Isergil. Gesammelte Erzählungen, aus dem Russischen von Michael Feofanow, Diederichs, Leipzig 1902.
7 Rimsky-Korsakov, Nikolai, Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und von der Jungfrau Fewronija, Oper, Sankt Petersburg 1906
8 Nederlander, Munin, Kitez. The Russland Grail Legends, The Aquarian Press, First Edition, London, 1991, S. 92-95
9 Zsolt Gárdonyi, Alexander Skrjabin (1871–1915) zum 100. Todestag, Würzburg, www.gardonyi.de
10 Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Urgnosis, Band 2, Rozekruis Pers, Haarlem, 2. Auflage 1983, S.276
11 Helena Roerich, a.a.O.

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Post info

Datum: Oktober 18, 2023
Autor: Elena Vasenina Russia/Germany
Foto: Feuer im Herzen - Kosnick HD

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