Der geheime Garten – Frances Hodgson Burnett (1849-1924)

Buchbesprechung

Der geheime Garten – Frances Hodgson Burnett (1849-1924)

Der Klassiker der englischen Kinderliteratur, Der geheime Garten [1] von Frances Hodgson Burnett, erschien erstmals im Jahr 1911. Mehr als hundert Jahre später wird das Buch immer noch aufgelegt und im Jahhr 2020 erschien die letzte Verfilmung des Romans. Es ist die Geschichte des Waisenmädchens Mary, dem es gelingt, einen verbotenen, vernachlässigten, geheimen Garten wieder zum Blühen zu bringen – und damit auf sich selbst und andere die bezaubernde Art wirkrn zu lassen. Es ist eine Verzauberung, die Jung und Alt gleichermaßen erfasst. Die Geschichte wie die Wirkung des Gartens ist spannend, geheimnisvoll und magisch.

Auf die eine oder andere Weise,

so stellt Hodgson fest,

passiert immer etwas, kurz bevor es am schlimmsten wird.

Mit leichtem Ton bezeugt sie Lebensweisheiten, die bis heute ihren Weg zun Leser finden.

Beschreibung

Mary Lennox wird in Indien geboren. Ihr Vater arbeitet für die britische Regierung und ist immer beschäftigt. Ihre Mutter, von allen als Schönheit bezeichnet, lebt nur für Partys. Sie wollte nie ein Kind haben und lässt Mary gleich nach der Geburt zu einer Ayah, einem indischen Kindermädchen, bringen. Mary wächst ohne liebevolle Zuwendung auf, sieht unattraktiv aus, ist dünn, hat strähniges blondes Haar und wirkt immer unfreundlich. Sie ist egoistisch und verwöhnt und gewöhnt, dass ihre Ayah und die indischen Diener ihr in allem den Vortritt lassen.

Als Marys Eltern bei einer Choleraepidemie sterben, wird sie zu ihrem Onkel und Vormund Archibald Cravennach England geschickt. Er lebt auf dem großen Anwesen House Misselthwaite. Er ist ein eigenbrötlerischer Mann, der niemanden wirklich sehen will und ständig auf Reisen ist. Mary fühlt sich einsam und verlassen in dem großen, düsteren Haus mit seinen vielen verschlossenen Räumen. Eine angenehme Abwechslung ist die Bekanntschaft eines Bauernmädchen, das sie mit Geschichten aus ihrem Familienleben aufheitert. Darüber hinaus hat House Misselthwaite einen großen Park, in dem Mary spielen und sich die Zeit vertreiben kann. Sie wandert immer wieder über verschlungene Pfade, Blumenbeete, Springbrunnen und weite Rasenflächen. Dabei entdeckt sie einen ummauerten Bereich, den sie nicht betreten kann. Sie erfährt, dass sich hinter der Mauer ein Garten befindet, der ihrer jungen, verstorbenen Tante gehörte. Seit zehn Jahren ist dort niemand mehr gewesen. Mary wird von Tag zu Tag neugieriger. Eines Tages weist ihr ein kleines, hartnäckiges Rotkehlchen den Weg zum Eingang, der von Pflanzen überwuchert ist, und zu ihrer großen Überraschung findet sie auch den Schlüssel, der zum Eingangstor zu passen scheint. Drinnen angekommen, findet sie sich in einem wilden, aber wunderschönen Garten wieder, einem kleinen Paradies. Es ist dieser Garten, der Mary zunehmend das Gefühl der Einsamkeit nimmt. Doch die schönste Entdeckung macht sie in einer stürmischen Nacht, als sie nicht schlafen kann. In dem alten Haus ist zwischen den tosenden Windböen ein seltsames Geräusch zu hören. Ist das nicht das Weinen eines Kindes? Und wer ist Martha und wer ist ihr Bruder Dickon, von dem es heißt, dass sogar die Füchse ihm den Weg zeigen, wo sie ihre Jungen haben, und die Lerchen ihre Nester nicht vor ihm verstecken. Die Freundschaft zwischen den Kindern und den Tieren, die gemeinsam an der Schönheit des blühenden Gartens arbeiten, verändert ihr Leben. Unangenehme, egoistische Gedanken machen Platz für ein gegenseitig hilfreiches und aufbauendes Miteinander. Negative Gefühle verschwinden, und Positive erwachen.

Bloße Gedanken – können für einen Menschen so nützlich sein wie Sonnenlicht, oder wie schleichendes Gift das Leben verdunkeln.

Dies ist das Hauptmotiv des Buches, und die Autorin macht es nicht nur im Leben der Kinder, sondern auch in dem der erwachsenen Figuren sichtbar und spürbar. Gedanken können sich ändern. Ängste, Einsamkeit, Trübsinn und sogar körperliche Beschwerden können im Handumdrehen überwunden werden. Schließlich beginnt auf Misselthwaite für alle ein glücklicheres Leben.

 

Die Autorin

Ich werde versuchen, herauszufinden, was Magie für mich bedeutet, denn ich glaube, dass in allem, was uns umgibt, Magie steckt.

Frances Eliza Hodgson wurde 1849 in Manchester, England, geboren. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1864 wandert die Familie zu Verwandten nach Amerika aus. Sieben Jahre später stirbt auch ihre Mutter. Als Erzählerin verdient sie genug, um ihre Geschwister zu unterstützen. Unter dem gesellschaftlichen Druck der damaligen Zeit heiratet sie 1873 ihren Jugendfreund und Nachbarn Swan Burnett. Sie unterstützt ihren Mann mit den Erträgen aus ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, während er auf sein Medizinstudium hinarbeitet. Sie ziehen nach Paris, wo ihr Mann sein Medizinstudium fortsetzt. Ihr erster Sohn, Lionel, wird im folgenden Jahr geboren. Ihr zweiter Sohn, Vivian, wird 1876 geboren. Die Familie zieht dann nach Washington um. Ihr erster Roman wird 1877 veröffentlicht. Sie führt nicht das Leben einer gewöhnlichen Frau. Sie schreibt und verdient Geld, indem sie verschiedene Projekte finanziert, insbesondere solche, die Kinder betreffen. Sie durchbricht traditionelles Denken und betritt Neuland, auch für andere Schriftsteller, indem sie sowohl in den USA als auch in Großbritannien für das Urheberrecht kämpft. Das bringt ihr viel Kritik ein und sie fällt in der Presse in Ungnade.

Im Jahr 1890 stirbt ihr ältester Sohn im Alter von 16 Jahren an Tuberkulose. Frances und ihr Mann hatten sich bereits getrennt, aber 1898 lassen sie sich offiziell scheiden. Sie heiratet den zehn Jahre jüngeren Stephan Townsend, einen englischen Arzt, Schauspieler und auch ihr künstlerischer Mitarbeiter. Mit ihm reist sie durch Europa. Nach weniger als zwei Jahren lassen auch sie sich scheiden und Frances kehrt nach Amerika zurück. Die letzten siebzehn Jahre ihres Lebens verbringt sie in New York. Im Jahr 1924 stirbt sie und wird in New York beigesetzt.

Die Verluste, die sie in ihrem Leben erleidet, führen zu einer spirituellen Suche. Um 1900 blühen die Ideen der Theosophie auf. H.P. Blavatsky schrieb Die Geheimlehre und gründete 1875 die Theosophische Gesellschaft.

Frances ist von Anfang an interessiert und schließt sich der Theosophie an. Nach Lionels Tod interessiert sie sich für Spiritismus und Christliche Wissenschaft. Durch die theosophischen Lehren kommt sie mit alten Weisheiten, den kosmischen Prinzipien und der Kraft des Heilens in Kontakt. Das eröffnet ihr neue Perspektiven. Der geheime Garten legt Zeugnis von ihren Erkenntnissen ab. Die Figuren des Buches, unglücklich und ungeliebt, finden in Freundschaft, Schönheit und Selbstüberwindung wieder Freude am Leben. Sie erneuern sich selbst. Frances hatte ihren eigenen ummauerten englischen Garten in New York, voller Rosen und Stockrosen. Sie schaute hinaus, als sie in ihrem letzten Buch In the Garden [2] die folgenden Worte schrieb, die vielleicht von ihrer eigenen Lebenserfahrung von Verlust und Erneuerung sprechen:

Wenn du einen Garten hast, hast du eine Zukunft, und wenn du eine Zukunft hast, lebst du!

 

Fragment

Seit zehn einsamen Jahren war kein Mensch mehr durch diese Pforte gegangen, und doch waren im Inneren des Gartens Geräusche zu hören. Es waren die Geräusche laufender, schlurfender Füße, die unter den Bäumen hin und her zu jagen schienen, es waren seltsame Klänge gedämpfter, unterdrückter Stimmen – Ausrufe und unterdrückte Freudenschreie. Es schien tatsächlich wie das Lachen junger Leute zu sein, das unkontrollierte Lachen von Kindern, die versuchten, nicht gehört zu werden, die aber in einem Moment – wenn ihre Aufregung zunahm – ausbrechen würden.

Was um Himmelswillen träumte er da – was um Himmelswillen hörte er da? Hatte er den Verstand verloren und glaubte Dinge zu hören, die nicht für menschliche Ohren bestimmt waren? War es das, was die ferne, klare Stimme gemeint hatte? Und dann kam der Moment, der unkontrollierbare Moment, in dem die Geräusche vergaßen, sich selbst zu verstummen. Die Füße liefen schneller und schneller, sie näherten sich der Gartentür, da war ein schnelles, starkes, junges Atmen und ein wilder Ausbruch von lachenden Rufen, die nicht mehr zu bändigen waren, und die Tür in der Mauer wurde weit aufgerissen, das Efeublatt schwang zurück, und ein Junge stürzte in vollem Tempo hindurch und stürzte, ohne den Außenstehenden zu sehen, fast in dessen Arme.

Mr. Craven hatte sie gerade noch rechtzeitig ausgestreckt, um ihn vor dem Sturz zu bewahren, der durch den unbemerkten Ansturm ausgelöst worden war, und als er ihn zurückhielt, um ihn in seinem Erstaunen über seine Anwesenheit zu betrachten, schnappte er regelrecht nach Luft. Er war ein großer Junge und ein stattlicher. Er glühte vor Leben, und sein Lauf hatte ihm eine prächtige Farbe ins Gesicht gezaubert. Er warf das dichte Haar aus der Stirn zurück und hob ein Paar seltsamer grauer Augen – Augen voller jungenhaftem Lachen und mit schwarzen Wimpern wie mit einem Fransenrand umrandet. Es waren die Augen, die Mr. Craven nach Luft schnappen ließen.

„Wer was? Wer?“, stammelte er. Das war nicht das, was Colin erwartet hatte, das war nicht das, was er geplant hatte. An ein solches Treffen hatte er nie gedacht. Und dass er als Sieger aus einem Rennen hervorging, war vielleicht sogar noch besser. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Mary, die mit ihm gelaufen war und ebenfalls durch die Tür gestürmt war, glaubte, dass er es geschafft hatte, sich größer zu machen, als er jemals zuvor ausgesehen hatte – Zentimeter größer.

„Vater“, sagte er, „ich bin Colin. Du kannst es nicht glauben. Ich kann es selbst kaum glauben. Ich bin Colin. (…) Es war der Garten, der es getan hat, und Mary und Dickon und die Kreaturen und die Magie. Keiner weiß es. Wir behielten es, um es dir zu sagen, wenn du kommst. Mir geht’s gut, ich kann Mary im Rennen schlagen. Ich werde ein Athlet sein.“

Er sagte das alles so wie ein gesunder Junge, sein Gesicht errötete, seine Worte überschlugen sich in seinem Eifer, dass Mr. Cravens Seele vor ungläubiger Freude bebte. Colin streckte seine Hand aus und legte sie auf den Arm seines Vaters. „Bist du nicht froh? Vater?“, endete er. „Bist du nicht froh? Ich werde leben, für immer und ewig und immer!“

Mr. Craven legte seine Hände auf beide Schultern des Jungen und hielt ihn still. Er wusste, dass er es nicht wagte, auch nur einen Moment lang zu sprechen. „Nimm mich mit in den Garten, mein Junge“, sagte er schließlich. „Und erzähl mir alles darüber.“ Und so führten sie ihn hinein (…) Er sah sich um und sagte: „Ich dachte, es wäre tot“, sagte er. „Das dachte Mary auch zuerst“, sagte Colin. „Aber er wurde lebendig.“

 

Fundstücke

Die Kraft des Buches liegt in der Erkenntnis, dass man sich innerlich verändern kann, dass man alles überwinden kann, was man durchmacht, sogar den Verlust der Eltern in jungen Jahren. Das Leben bietet einem immer wieder neue Gelegenheiten zum Wachstum, wenn man sie nur wahrnehmen will. Nur das immer wiederkehrende Rotkehlchen, üppig, freundlich zwitschernd, neugierig den Kopf drehend, zeigt den Weg mit einer schönen Leichtigkeit. Der Wind weht im richtigen Moment die losen Efeugirlanden beiseite und legt den runden Türknauf des ummauerten Gartens frei. Dies sind Beispiele, die in dem Waisenmädchen Maria einen neuen, bisher unbekannten Sinn für das Leben wecken. Sie nimmt es wahr; sie geht darauf ein. Das Buch führt nicht nur in die Schönheit der sichtbaren Wirklichkeit, sondern lässt die Tiefe einer unsichtbaren Lebenskraft erfahren, die über sie hinaus und durch sie hindurch drängt. Die Kinder nennen sie „die Magie“, sie erinnert an das alles durchdringende Licht der Weltseele. Das Buch eröffnet einen Blick auf das Geheimnis des Lebens, auf die spirituelle Perspektive, die die Theosophie bietet: Es gibt eine andere Wirklichkeit hinter der natürlich beobachtbaren, sichtbaren Welt. Es lässt Sie mit den Kindern nach der Wahrheit hinter den äußeren Erscheinungen suchen. Die grünen Halme, die knapp über den Boden ragen, geben Mary „Atem“, indem sie den Boden um sich herum entfernen. Das „Aufwachen“ des Gartens symbolisiert das Erwachen neuer Seelenkräfte. In diesem Sinne kann der ummauerte Garten als die Welt der Seele betrachtet werden. Diejenigen, die in ihm arbeiten, um die Blumen zum Blühen zu bringen, blühen selbst auf, verändern sich und finden Heilung.

Der kränkliche Junge Colin überwindet seinen Glauben, dass er einen Buckel hat und bald sterben wird. Mary, mit ihrem Kopf voller schlechter Gedanken über alles, was sie nicht mag, verändert sich, sobald sie von Rotkehlchen, Blumen und Dickon mit seinen Lieblingstieren erfüllt wird, wird sie ein anderes Kind. Parallele Ereignisse, wir würden heute sagen Synchronizität, lassen uns erkennen, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde und dass sich alles gegenseitig beeinflusst. Wie innen, so außen – wie oben, so unten – wie im Kleinen, so im Großen. Mary und Colin treffen sich aus einem bestimmten Grund; beide sind auf ihre Weise widerspenstig und verwöhnt und spiegeln sich gegenseitig wider. Und als Colin sich traut, allein im Garten spazieren zu gehen und ausruft, dass er für immer leben möchte, entdeckt sein Vater weit weg in Tirol zum ersten Mal seit zehn Jahren, dass etwas Wunderbares in ihm vorgeht. Es ist, als ob ihn etwas ganz sanft befreit und ihm das Gefühl gibt, dass auch er wieder lebendig ist. Unaufdringlich und in aller Einfachheit gibt Frances ihre universelle Weisheit weiter, sie lässt sie die Kinder entdecken, und der Leser erlebt sie, nie störend oder aufdringlich, sondern bereichernd. Der Zauber des Lebens, die unsichtbare Verbindung zwischen allem, was ist, und die heilenden Kräfte des Seelenlebens schwingen in der Geschichte mit. Alte Weisheitslehren wurden von der Theosophie wieder ans Licht gebracht, die Frances Hodgson in diesem herzerwärmenden Buch zum Ausdruck bringt. Die Geschichte bleibt aktuell, denn sie berührt das Leben einer jeden Seele.

Wo du eine Rose pflanzt, liebes Kind, kann keine Distel wachsen.

Ein unvergessliches Leseerlebnis, ein Buch von unschätzbarem Wert!

 

Quellen:

[1] Frances Hodgson Burnett, Der geheime Garten, Coppenrath, Münster 2019

[2] Frances Hodgson Burnett, In the Garden, The Curtis Publishing Company, 1925

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Datum: März 9, 2023
Autor: Ankie Hettema-Pieterse (Netherlands)
Foto: by ThomasWolter on Pixabay CCO

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